Mit hohen Löhnen wurde die ostdeutsche Wirtschaft aus dem Markt geworfen / Die Eigeninteressen des Westens
Forum: Herbert Giersch und Hans-Werner Sinn über die Bilanz der Einheit
Blühende Landschaften, wie Helmut Kohl sie versprach, gibt es überall in den neuen Ländern: als Straßenzüge mit schmucken Fassaden, als Einkaufszentren am Rande der Städte, als Freizeit-Einrichtungen zuhauf. Der Konsum floriert - bei Haushaltseinkommen, die an das Westniveau heranreichen (90 Prozent), bei Rentnern sogar darüber hinaus. Doch beruht der hohe Konsumstandard nur zum Teil auf eigener Leistungskraft. Allein über die öffentlichen Kassen fließen jährlich 140 Milliarden DM in die neuen Bundesländer. Zusammen mit der Neuverschuldung der neuen Länder, der Kreditaufnahme der Unternehmen und den Direktinvestitionen westlicher Firmen gelangen jährlich Finanzmittel im Umfang von 210 Milliarden DM in die neuen Länder, wo sie ausgegeben werden, ohne vorher verdient worden zu sein. Die Gesamtausgaben übersteigen das Bruttoinlandsprodukt um die Hälfte. Jede dritte Mark, die ausgegeben wird, stammt aus dem Westen..
Der Abstand wächst
Das Hauptproblem liegt im verarbeitenden Gewerbe. Dessen Anteil an der Gesamtbeschäftigung liegt um zehn Prozentpunkte niedriger als im Westen. Normalerweise erzeugt das verarbeitende Gewerbe die Exporte, mit denen die Importe bezahlt werden. In den neuen Ländern fehlt es daran. Die Lücke wird durch Kredite und Finanzhilfen geschlossen. Bis heute ist die Wirtschaft in den neuen Ländern nicht auf den grünen Zweig gekommen. Seit vier Jahren wächst sie langsamer als im alten Bundesgebiet. So vergrößert sich der Abstand zum Westen, statt sich zu verkleinern. Es zeigt sich dies an den Ausrüstungsinvestitionen. Je Kopf der erwerbsfähigen Bevölkerung liegen sie nur bei 90 Prozent des Westniveaus, obwohl sie dieses eigentlich übersteigen müssten, um ein Aufholen zu ermöglichen.
Im Englischen gibt es eine Redensart, die die Ursachen dieser Misere treffend beschreibt: You are pricing yourself out of the market. Wer zu viel verlangt, geht leer aus, auch wenn er noch so gute Sachen anbieten kann. Mit Löhnen, die zur Weltspitze gehören, wirft man sich selbst aus der Bahn, konnten die neuen Länder ihre alten DDR-Exportmärkte nicht verteidigen oder gar auf neuen Märkten Boden gewinnen. Zu DDR-Zeiten hat man die Exporte über den Wechselkurs verbilligt, so dass die Lohnkosten pro Arbeitsstunde nur sieben Prozent der westdeutschen ausmachten. Heute verlangt man Löhne, die mehr als zehn mal so hoch sind wie damals. So hohe Löhne werden durch die Arbeitsproduktivität nicht gedeckt. Und so machen die Investoren einen weiten Bogen um das Land, kann eine leistungsfähige Industrie erst gar nicht wieder entstehen.
Gestützt werden die hohen Löhne durch das Sozialsystem. Es zieht eine viel zu hohe Lohnuntergrenze in das Tarifsystem ein. Ergeben hat sich das hohe Lohnniveau, weil die Tarifverträge von Leuten ausgehandelt wurden, die von ihren Interessen her eigentlich gar nicht dafür zuständig waren. Ermuntert durch eine kurzsichtige Politik konnten nach der Wende die Vertreter westdeutscher Arbeitgeber und Arbeitnehmer für die neuen Länder mehrjährige Tarifverträge abschließen, die die volle Lohnangleichung binnen kurzer Frist vorsahen. Da sich die Löhne im vereinten Deutschland ohnehin angleichen würden, so das Argument, könnte man dies ja schon vorweg vereinbaren. Aber man kann so etwas nicht vorwegnehmen, weil es die Investoren abschreckt oder verjagt. Nur wenn die Löhne hinter der Produktivität her hinken, entstehen die Gewinne, mit denen die Investoren angelockt werden.
Es waren denn wohl nicht nur edle Motive, die die westdeutschen Verhandlungsführer bewegten. Ihnen ging es auch darum, westdeutsche Arbeitsplätze vor dem zu schützen, was als Lohndumping verschrien ist. Ist es nicht recht und billig, dass Unternehmen, die im eigenen Land als Konkurrenten hinzukommen, nicht nur dieselben Steuern zahlen, sondern auch dieselben Löhne und Lohnzusatzkosten? Ist es nicht dies, was das Gleichgewicht kennzeichnet? Aber hier ging es nicht um ein Gleichgewicht, sondern um einen Prozess, an dessen Ende vielleicht einmal ein Gleichgewicht stehen würde.
Ein Vergleich drängt sich auf - mit Italiens Mezzogiorno-Problem. Lange Jahre wurden die Löhne in Süditalien ohne Rücksicht auf die unterschiedlichen Standortbedingungen von den Gewerkschaften und Unternehmerverbänden im Norden diktiert. Sie wurden auf einem Niveau festgeschrieben, das den Mezzogiorno überforderte. Die Folge war ein Attentismus der Investoren und eine große Arbeitslosigkeit, die zum Ausgleich staatliche Transferleistungen verlangte. Der Unterschied zu den neuen Bundesländern ist evident: Es fehlt hierzulande die Sonne, die der ungewollten Muße die Leichtigkeit des Seins verleiht.
Prof. Dr Herbert Giersch war langjähriger Präsident des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel, Prof. Dr. Hans-Werner Sinn ist Präsident des Ifo-Instituts München.