In der Zwickmühle

Autor/en
Hans-Werner Sinn
Die Zeit, 02.03.2000, S. 30

Die Globalisierung ist gut und gefährlich zugleich

Die zunehmende Globalisierung der Wirtschaft entzweit die Menschen. Die einen empfinden sie als Bedrohung, die anderen als Chance. Beides ist richtig. Die Globalisierung verbessert den Handel mit Gütern, den Austausch von Arbeitskräften und den grenzüberschreitenden Kapitalverkehr. Die Folge ist ein allgemeiner Wachstumsschub, von dem grundsätzlich alle Länder profitieren. Auch Deutschland.

Aber, und das ist das Problem, der Wohlstand wird nur im Durchschnitt steigen. Es wird Gewinner geben ebenso wie Verlierer. Die Vermögensbesitzer und die Anbieter hoch qualifizierter Arbeit werden zu den Gewinnern gehören. Die einfachen Arbeiter und Angestellten aber werden unter den Verlierern zu finden sein: Ihre internationalen Spitzenlöhne sind nicht zu verteidigen - höchstens um den Preis einer weiter wachsenden Arbeitslosigkeit. Der freie Güterhandel und die Wanderung von Kapital und Arbeit werden den Kuchen insgesamt vergrößern, doch die einfachen Arbeiter und Angestellten in Deutschland werden ein kleineres Stück davon abbekommen. Sie werden weniger Einkommen erzielen, als es ohne die Globalisierung der Fall gewesen wäre.

Verantwortlich dafür sind die Kräfte des so genannten Faktorpreisausgleichs. Die entwickelten Länder spezialisieren sich zunehmend auf die Produktion von Gütern, zu deren Herstellung man viele Maschinen und technisches Wissen braucht, aber wenig Arbeitskräfte. Die Folge sind immer mehr arbeitslose Arbeiter und sinkende Löhne. Zugleich wandert zum einen Kapital in die Niedriglohnländer, wo man billiger produzieren kann - und zum anderen wandern Arbeitskräfte von den Niedriglohnländern in die entwickelten Länder, wo sie den inländischen Arbeitskräften Konkurrenz machen. Das alles dämpft den Lohnanstieg in den Industrieländern und erhöht die Löhne in den Entwicklungsländern. Die Lohneinkommen in Erster und Dritter Welt werden sich also annähern. Die deutschen Unternehmen und die Vermögensbesitzer werden vom zunehmenden Welthandel profitieren. Ein großer Teil der Arbeitnehmer aber wird dies mit Gehaltseinbußen bezahlen.

Erhebliche Probleme wird die Globalisierung auch für den Sozialstaat bringen. Den Reichen, die dem Sozialstaat mehr geben, als sie zurückbekommen fällt es immer leichter, den Zahlungen auszuweichen. Sie müssen lediglich ihren Wohnsitz in ein anderes Land verlegen. Gleichzeitig werden immer mehr Arme, die vom Sozialstaat mehr Leistungen erhalten als sie bezahlen, in die Lage versetzt, sich den großzügigsten Sozialstaat auszusuchen. Die EU-Erweiterung wird in diesem Zusammenhang zu einem Problem, weil sie erhebliche Wanderungsströme aus Osteuropa und einen Abschreckungswettbewerb zwischen den westeuropäischen Sozialstaaten in Gang setzen wird. Ein Staat, der großzügiger ist als seine Nachbarn, wird zum Magnet für die Armen. Deshalb wird er versuchen, weniger großzügig zu sein: Zug um Zug werden die Sozialstaaten ihre Leistungen zurücknehmen. Auch der viel zitierte Umbau der Sozialsysteme hin zu einem, wie es heißt, aktivierenden Sozialstaat wird den Abschreckungswettbewerb nicht aufhalten können. Es sind ja gerade die zuwandernden Arbeitnehmer, die in den Genuss der Niederlassungsfreiheit kommen und im Gastland staatliche Leistungen empfangen dürfen. Nicht der Umbau, sondern der Abbau des Sozialstaates ist die Konsequenz des Abschreckungswettbewerbs, den die Globalisierung hervorbringt.

Dies ist die Zwickmühle, in der die westlichen Industrieländer stecken. Wegen der weltweiten Niedriglohnkonkurrenz wächst einerseits der Bedarf nach sozialstaatlichem Schutz. Andererseits verringert sich die Möglichkeit, solchen Schutz auch weiterhin zu gewähren. Die Lohn- und Verteilungspolitik kann daran nichts ändern, ohne die Probleme noch zu vergrößern. Es bleibt nur wenig Spielraum für sinnvolle Reaktionen. Die Arbeitnehmer müssen noch produktiver werden, um der wachsenden Lohnkonkurrenz standzuhalten. Die Regierungen müssen noch mehr Macht und Kontrollmöglichkeiten aufgeben. Zur Linderung der steigenden Ungleichheit kommen die Förderung von Forschung und Ausbildung, Investivlohn- und Arbeitnehmersparmodelle sowie ein Übergang zu einer parziellen Kapitaldeckung in der Rentenversicherung in Betracht. Alle Staaten gemeinsam können durch eine Harmonisierung von Kapitaleinkommensteuern und der Anwendung des Heimatlandprinzips bei der Sozialhilfe versuchen gegenzusteuern. Aufhalten können sie die Entwicklung jedoch nicht. Dazu sind die Kräfte, von denen sie getrieben wird, viel zu stark.

Wiederveröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Wochenschrift Die Zeit.