Warum Deutschland Schlußlicht ist

Autor/en
Hans-Werner Sinn
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.05.2002, S. 16

Für eine Umkehr sind harte Reformen notwendig / Nur mehr Beschäftigung schafft Wachstum

Deutschland ist beim Wirtschaftswachstum und beim Export auf den Weltmärkten zurückgefallen. Gegenüber dem EU-Durchschnitt errechnet sich in den vergangenen sieben Jahren eine Wachstumseinbuße von gut 6 Prozent, und der Anteil am Export, der Anfang der neunziger Jahre mehr als 10 Prozent betragen hatte, beträgt nur noch etwa 8 Prozent. Das hat interne und externe Ursachen. Dabei ist der Anstieg der Löhne und lohnbezogenen Abgaben an erster Stelle zu nennen, denn er hat die -Schaffung neuer Arbeitsplätze durch Investitionen behindert. Die realen Lohnkosten im Verarbeitenden Gewerbe sind in den vergangenen zwanzig Jahren in Westdeutschland um mehr als 40 Prozent gestiegen. In den Niederlanden betrug der Anstieg nur etwas mehr als 20 Prozent und in den Vereinigten Staaten etwa 8 Prozent. Folge: Die Zahl der Beschäftigtenstunden stieg in den Vereinigten Staaten um gut 40 Prozent und in den Niederlanden um 20 Prozent, während sie in Westdeutschland um etwa 5 Prozent zurückging. Damit bestätigt sich die Faustregel, daß ein Prozent Lohnzurückhaltung langfristig mindestens ein Prozent mehr Beschäftigung schafft.

Die Ausweitung des Sozialstaates hat zum Anstieg der Lohnkosten maßgeblich beigetragen. Durch den Ausbau der Lohnersatzleistungen wurden die Anspruchslöhne erhöht, außerdem wurde die auf dem Faktor Arbeit lastende Abgabenlast gesteigert. Mit mehr als 65 Prozent hat die Grenzabgabenlast der Wertschöpfung,. die ein durchschnittlicher Arbeitnehmer aufgrund einer Qualifizierungsmaßnahme oder einer Mehrbeschäftigung erwirtschaftet, in Westdeutschland heute eine einsame internationale Spitzenposition inne. Nichtbeschäftigung ist in Deutschland immer lukrativer und Beschäftigung immer unattraktiver geworden. Kein Wunder, daß. immer weniger Menschen beschäftigt sind und daß das Wachstum lahmt.

Auch die Wiedervereinigung erklärt einen Teil der Wachstumsschwäche. In wirtschaftlicher Hinsicht ist sie mißlungen, weil Ansprüche auf Einkommensangleichung geweckt wurden, bevor die Angleichung der gesamtwirtschaftlichen Produktivität realisiert werden konnte. Während das Inlandsprodukt je Erwerbsfähigen in Ostdeutschland mit sinkender Tendenz bei nur 58 Prozent der alten Bundesrepublik liegt, haben die Lohnkosten ein Niveau von deutlich über 70 Prozent und die durchschnittlichen Haushaltsnettoeinkommen ein Niveau von etwa 85 Prozent erreicht. Die Renten sind im Durchschnitt sogar 10 Prozent höher als im Westen. Die Folge der antizipatorischen Einkommensangleichung und der damit verbundenen Hochlohnpolitik war, daß die neuen Länder nie eine Chance erhielten, ein wettbewerbsfähiger Wirtschaftsstandort zu werden. Die Kräfte; die eine Angleichung der gesamtwirtschaftlichen Produktivität hätten herbeiführen können, wurden von Anfang an geschwächt. Seit 1977 driften die beiden Landesteile bei ihrer Wirtschaftskraft weiter auseinander. Nach wie vor geht die Beschäftigung im Osten um gut 2 Prozent im Jahr zurück.

Die Wachstumsschwäche des Ostens überträgt sich rechnerisch in das geringe Niveau des gesamtdeutschen Wachstums. Darüber hinaus trägt sie zur westdeutschen Wachstumsschwäche bei, weil sie andauernde öffentliche Transfers in die neuen Länder erzwingt und den Investoren klarmacht, daß sie auch weiter mit hohen Lasten in Deutschland rechnen müssen. Das Leistungsbilanzdefizit der neuen Länder liegt bei etwa 45 Prozent der eigenen Erzeugung. Der größere Teil dieses Defizits wird durch öffentliche Transfers finanziert. Der kleinere Teil ist durch private Kapitalströme gedeckt. Niemals zuvor hat es eine Region gegeben, die in solch großem Umfang von einem Ressourcenzustrom aus anderen Regionen abhängt.

Zu diesen internen Gründen kommen als akute externe Ursachen die Verschärfung der Wettbewerbslage durch den Fall des Eisernen Vorhangs und die europäische Integration hinzu. So hat besonders der Euro zur Schaffung eines gemeinsamen Kapitalmarktes und zu einer geradezu dramatischen Zinskonvergenz in Europa geführt, die das Wachstum in den eher peripheren Regionen beschleunigt und die wirtschaftliche Konvergenz wie angestrebt vorantreibt. Der Euro hat - kurz gesagt - die deutsche Industrie ihres Wettbewerbsvorteils in Form niedriger Zinsen beraubt und zu einer Stärkung der Wachstumskräfte in anderen Ländern geführt.

Um das Wachstum wieder zu beschleunigen, müssen die Marktkräfte besonders auf dem Arbeitsmarkt aktiviert werden. Wird die brachliegende Ressource Arbeitskraft mobilisiert, wird auch das Sozialprodukt steigen. Die Aussage, daß Wachstum Beschäftigung schaffe, stimmt in Deutschland schon lange nicht mehr, eher das Gegenteil ist der Fall. Beschäftigung schafft Wachstum.

Die Reformen sollten zunächst beim Sozialstaat ansetzen, der hohe Anspruchslöhne schafft. Man sollte gering Qualifizierten Lohnergänzungsleistungen zahlen. Diese Maßnahme beseitigt die Lohnuntergrenze, die von der Sozialhilfe gebildet wird, und wird die Gewerkschaften veranlassen, niedrigere Löhne zu akzeptieren. Bei niedrigeren Löhnen werden zusätzliche Jobs rentabel, die sonst nie zur Verfügung gestellt worden wären. Richtig austariert, wird das Ganze für den Staat eher billiger als das heutige Sozialsystem.

Außerdem muß das Tarif- und Arbeitsrecht grundlegend reformiert werden. Flächentarifverträge sollten in Zukunft nur noch den Charakter von Lohnleitlinien haben, die ein Betrieb unterschreiten kann, wenn die Mehrheit der Belegschaft dies möchte. Das Günstigkeitsprinzip ist so.zu interpretieren, daß auch die Schaffung von Arbeitsplätzen zu den "günstigen" Maßnahmen gerechnet wird. Der Kündigungsschutz sollte gelockert werden, um Neueinstellungen zu ermöglichen. Kündigungsschutz sichert die Arbeitsplätze nur kurzfristig, langfristig verursacht er Arbeitslosigkeit und macht die Arbeitsplätze unsicher. Besser ist die Mitbeteiligung der Arbeitnehmer. Wenn den Arbeitnehmern zum Ausgleich für eine Lohnzurückhaltung Beteiligungsrechte angeboten werden, lassen sich erhebliche Mobilisierungseffekte erreichen.

Eine neue Rentenreform ist zudem genauso erforderlich wie eine weitgehende Privatisierung der Krankenkassen und eine grundsätzliche Neuorientierung der Politik in den neuen Ländern, die die Eigenverantwortung der Menschen stärkt. Schließlich ist das Ausbildungswesen zu stärken, um die Basis für einen neuen Innovationsschub zu legen. An harten Reformen führt aber kein Weg vorbei, wenn Deutschlands Wirtschaft beim Wachstum nicht mehr Schlußlicht sein soll..

Der Autor ist Präsident des Ifo-Instituts und lehrt Nationalökonomie und Finanzwissenschaft an der Universität München.
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