Der Weg in den Steuerstaat

GASTKOMMENTAR
Autor/en
Hans-Werner Sinn
Handelsblatt, 17.10.2002, S. 10

Deutschland ist seit dreißig Jahren auf der schiefen Bahn. Die Staatsquote stieg von 39 auf über 48 Prozent. Die Arbeitslosenzahlen stiegen von 150 000 (Westdeutschland) auf über vier Millionen. Beide Entwicklungen hängen zusammen, und bei beiden ist das Ende nicht in Sicht. Die jüngsten Vorschläge der Bundesregierung im gestern unterschriebenen Koalitionsvertrag schieben das Land jedoch weiter in die falsche Richtung, denn was euphemistisch als "Sparprogramm" bezeichnet wird, ist in Wahrheit nichts anderes als ein massives 10-PunkteProgramm zur Steuererhöhung.

1. Die Ökosteuer wird zum 1. Januar weiter erhöht. Die Ökosteuer ist nicht die schlechteste aller Steuern, aber sie tritt zu den bereits sehr hohen Steuern hinzu, die dieses Land erdrücken. Das beraubt auch sie der Legitimation.

2. Die nächste Stufe der Steuerreform hätte die progressionsbedingte Erhöhung der durchschnittlichen Lohn- und Einkommensteuerbelastung abfedern können. Die Verschiebung der bereits beschlossenen Tarifkorrektur verhindert diesen Effekt. Deutschland ist und bleibt das Land, in dem die Grenzabgabenlast der Wertschöpfung des durchschnittlichen Arbeitnehmers mit ca. 66 Prozent den höchsten Wert der Welt aufweist.

3. Die Mindeststeuer für Kapitalgesellschaften ist angesichts des negativen Körperschaftsteueraufkommens, das im Jahr 2001 und in der ersten Hälfte des Jahres 2002 zu beobachten war, verständlich. Die Regierung hatte bei der Reform der Körperschaftsteuer einen Fehler gemacht. Sie hatte nicht bedacht, dass die Ausschüttung alter Eigenkapitaltöpfe und der Ersatz alten, hoch besteuerten Eigenkapitals durch neues, niedrig besteuertes Eigenkapital zu einer nachträglichen Entlastung des gesamten seit 1977 durch Rücklagen aufgebauten Eigenkapitalbestandes der Unternehmen fuhren würden. Dieser Denkfehler soll nun durch die Mindeststeuer korrigiert werden. Ob dies der beste Weg war, sei dahingestellt, aber auf jeden Fall ist die Einführung der Mindeststeuer eine massive Steuererhöhung.

Was als "Sparprogramm" bezeichnet wird, ist nichts anderes als ein Programm zur Steuererhöhung.

4. Die Abschaffung der (irrtümlich so genannten) Spekulationsfrist bedeutet in Wahrheit die Einführung einer echten Wertzuwachssteuer, die es in Deutschland noch nie gegeben hat. Sie belastet auch die Erträge derjenigen, die ihr Geld zur Alterssicherung langfristig angelegt haben. Wertzuwächse entstehen durch Einbehaltung von Gewinnen zum Zwecke der innerbetrieblichen Investition.
Die Wertzuwachssteuer diskriminiert Investitionen, die mit einbehaltenen Gewinnen finanziert werden, und sie fördert die Ausschüttung. Sie bewirkt das Gegenteil dessen, was mit der Entlastung der einbehaltenen Gewinne der Kapitalgesellschaften vor 2 Jahren beabsichtigt war.

5. Der Beitragssatz zur Rentenversicherung wird um 0,2 Prozentpunkte erhöht. Da dieser Erhöhung keine höheren Ansprüche der zahlenden Arbeitnehmer gegenüberstehen, ist sie eine reine Steuererhöhung.

6. Die Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze der Rentenversicherung von 4500 auf 5100 Euro führt zu einer deutlichen Erhöhung der Abgabenlast für Personen in dieser Einkommensspanne, die ebenfalls zum größten Teil als Steuer anzusehen ist. Circa vierzig Prozent der zusätzlichen Abgabenlast wird durch den Anstieg des Barwerts der Rentenansprüche der zunächst Belasteten aufgewogen. Dieser Teil ist eine versteckte zusätzliche Staatsverschuldung. Der Rest, nämlich sechzig Prozent der Mehrbelastung, ist ein reiner Steueranstieg, dem keine zusätzlichen Ansprüche gegenüberstehen.

7. Mit der Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze der Rentenversicherung geht auch die Erhöhung der Versicherungspflichtgrenze der Krankenversicherung einher, die ja bei 75 Prozent dieser Grenze liegt. Für Personen, deren Einkommen im Bereich von 3375 und 3750 Euro liegt, entsteht nun eine Beitragspflicht für die Krankenversicherung.
Auch wenn der Beitragssatz auf die alte Pflichtgrenze bezogen bleibt, liegt hierin eine versteckte, erhebliche Steuererhöhung. Sie ist darin begründet, dass die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung für alle gleich sind, während die Beiträge einkommensabhängig gestaltet sind.

8. Flugbenzin, landwirtschaftliche Produkte und anderes mehr wird der vollen Mehrwertsteuerpflicht unterworfen. Ob die Ungleichheit der Mehrwertsteuersätze gerechtfertigt war oder nicht: Auch dies ist eine klare Steuererhöhung und nicht etwa eine Sparanstrengung der Regierung.

9. Ähnlich verhält es sich mit der Steuer auf Erdgas. Dass sie nun der Steuer auf Mineralöl angepasst wurde, mag mit dem Postulat der Gleichbehandlung verschiedener Energiearten begründet werden, obgleich eine unterschiedliche Behandlung unter Umwelt-Gesichtspunkten vertretbar war.
Doch ist die Erhöhung der Steuer auf Erdgas eine Steuererhöhung. Wer hier von dem Abbau einer Subvention spricht, leidet unter einer Begriffsverwirrung.

10. Die Erhöhung der offenen Staatsverschuldung um 0,13 Prozent des Sozialproduktes sowie die Erhöhung der versteckten Staatsverschuldung durch die Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze der Rentenversicherung sind als indirekte Steuererhöhungen zu werten, denn irgendwer muss später die Zeche zahlen, wenn die Schulden getilgt und die zusätzlich begründeten Rentenansprüche erfüllt werden.

Alles zusammen wird die Staatsquote somit deutlich erhöhen und die Kräfte der deutschen Wirtschaft weiter lähmen. Das Problem ist nicht so sehr die Konjunktur. Konjunkturell sind keine Nachteile zu erwarten, weil die Gelder, die dem Kreislauf entzogen werden, ihm auch wieder zugeführt werden.

Rot-Grün fehlt der politische Wille, den weiteren Marsch in den Steuerstaat zu verhindern.

Aber für das Wachstum der Produktionskapazität sind die Steuererhöhungen Gift. Klar, der Untergang der Bundesrepublik steht deshalb nicht bevor. Aber das Gefahrenpotenzial wird weiter vergrößert. Die Regierungen in der jüngsten bundesdeutschen Vergangenheit haben nicht den Mut gehabt, den Weg in den Steuerstaat zu verhindern. Dieser rot-grünen Regierung aber fehlt dazu der klare politische Wille.