Die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Arbeitnehmer im erweiterten Europa geht allmählich verloren, wenn sie nicht billiger werden, meint Hans-Werner Sinn
Die neuen Bundesländer, aber auch die grenznahen Gebiete Bayerns, stehen wegen der Osterweiterung der Union unter erheblichem Anpassungsdruck. Die Lohnkosten in Tschechien und Polen liegen bei einem Viertel bis Fünftel der Kosten in den neuen Ländern und einem Fünftel bis Sechstel der Kosten in Bayern. Die deutschen Industrieunternehmen nutzen die Chance, indem sie arbeitsintensive Produktionsprozesse nach Osteuropa verlagern. Doch für die deutschen Arbeiter entsteht ein Problem größeren Ausmaßes. Ihre Wettbewerbsfähigkeit geht allmählich verloren, wenn sie nicht billiger werden.
Das Problem betrifft die gesamte deutsche Industrie, insbesondere aber die grenznahen Gebiete Bayerns und die neuen Länder, die immer noch unter den übereilten Lohnsteigerungen der ersten Jahre leiden. Zwar liegen die Stundenlohnkosten für Industriearbeiter in den neuen Ländern heute erst bei etwa 72 Prozent des Westniveaus (während die Monatsbruttolöhne bei 77 Prozent, die Monatsnettolöhne bei 83 Prozent und die realen Monatsnettolöhne bei etwa 90 Prozent liegen). Doch stagniert die gesamtwirtschaftliche Produktivität seit 1997 bei knapp 60 Prozent.
Leider gibt es kein überzeugendes ökonomisches Szenarium, bei dem diese Lohnsituation mit einer Öffnung der Grenzen nach Osteuropa zu erklären ist, ohne dass es mittelfristig zu einer weiteren Zunahme der Arbeitslosigkeit kommt, die an machen Orten ohnehin schon katastrophale Ausmaße angenommen hat. Insbesondere die grenznahen Gebiete wie die ostdeutsche Lausitz wird es bei starren Löhnen weiter hart treffen.
Deswegen werden sich die Lohnstrukturen ändern müssen. Insbesondere werden die Löhne in den grenznahen Gebieten sowie die Löhne für einfache Arbeit in Relation zu den durchschnittlichen Löhnen sinken müssen. Gerade in diesen Segmenten konzentrieren sich die deutsche Arbeitslosigkeit und der Niedriglohnwettbewerb aus dem Osten. Die Löhne müssen nicht auf oder in die Nähe des polnischen Niveaus fallen. Davor schützen die bessere Infrastruktur und das bessere Rechtssystem, die vorläufig noch Produktivitätsvorteile sichern. Aber sie müssen nachgeben, um die Wettbewerbsfähigkeit der betroffenen Menschen wieder herzustellen.
Eine Lohnsenkung bei Menschen, die bereits niedrige Löhne verdienen, ist freilich ein soziales Problem ersten Ranges für Deutschland. Damit diese Lohnsenkung keine Einkommenssenkung wird, sollte der Sozialstaat sie durch Zuzahlungen beim Lohn kompensieren. Das Modell des Ifo-Instituts der aktivierenden Sozialhilfe, das die Vorlage für das Hessen-Modell des Bundesrates war, ist für den Staat belastungsneutral. Es ist im Gegensatz zum heutigen Sozialsystem mit der nötigen Lohnflexibilität kompatibel, und es fängt die Einkommensnachteile für Geringverdiener ab. Ja, für die typischen ostdeutschen Niedriglöhne wird es sogar zu einer deutlichen Einkommensaufbesserung bei den Geringverdienern führen.
Des Weiteren bietet es sich zumindest in den neuen Ländern an, die notwendigen Lohnsenkungen durch eine Mitbeteiligung am Produktivkapital auszugleichen. Investivlohnvereinbarungen, die über eine längere Zeitspanne laufen und nur die dann bereits beschäftigten Arbeitnehmer durch eine Mitbeteiligung am Unternehmen kompensieren, verringern die Lohnkosten für neue Beschäftigte. Sie bieten deshalb einen Anreiz zur Schaffung neuer Arbeitsplätze, ohne dass den bereits beschäftigten Arbeitnehmern Nachteile entstehen.
Der Markt sorgt nicht für die soziale Gerechtigkeit. Aber man kann Gerechtigkeit auch nicht gegen den Markt durchsetzen, indem man sich an Lohnstrukturen klammert, die der Wettbewerbslage nicht entsprechen. Es sollte die soziale Gerechtigkeit gestärkt werden, ohne die Funktionsfähigkeit des Marktes zu behindern. Aktivierende Sozialhilfe und Investivlöhne tragen dazu bei. Solche Lösungen werden in den neuen Ländern dringend benötigt, um für den Beitritt der Polen und Tschechen fit zu werden.
Der Autor ist Chef des Ifo-Instituts in München.