Arbeiter sind die Verlierer

Autor/en
Hans-Werner Sinn
politicum 100:Zukunft, 03/2007, S. 29 - 32

Die derzeit laufenden Umstellungsprozesse der deutschen Wirtschaft sind weitere Schritte zu einer Basar-Ökonomie: Outsourcing, also der Ersatz eigener Vorproduktion durch den Kauf von Vorprodukten bei (meist ausländischen) Zulieferern, und Offshoring, der Ersatz inländischer Vorproduktion durch eigene Niederlassungen im Ausland, sind die wichtigsten Erscheinungsformen dieser Umstellung. Während sich insbesondere die Exportunternehmen dadurch ihr Überleben sichern, werden die deutschen Arbeiter auf Grund der starren Arbeitsmarktregelungen die Verlierer sein.

Deutschland befindet sich inmitten eines Umstellungsprozesses, dessen Ergebnisse derzeit erst zu erahnen sind und der noch lange nicht zu Ende ist. Drei wesentliche Entwicklungstendenzen sind gedanklich zu unterscheiden, um das Geschehen einzuordnen.

Erstens erhöhen die Unternehmen die Kapitalintensität ihrer Produktion und damit die Produktion pro Arbeiter, indem sie die Automatisierung und Rationalisierung weiter vorantreiben.

Zweitens spezialisiert sich die Wirtschaft unter dem Druck der internationalen Niedriglohnkonkurrenz auf die sach- und humankapitalintensiven Sektoren der Wirtschaft. Dort steht nicht die einfache menschliche Arbeit im Vordergrund, die bei uns viel teurer ist als anderswo, sondern es sind Leistungen gefordert, die andere Länder nicht oder noch nicht erbringen können.

Drittens spezialisieren sich die Industrieunternehmen auf die kundennahen Endstufen ihrer Fertigung und verlagern die kundenferneren, also innerhalb der Entstehung "stromaufwärts" gelegenen Produktionsstufen, bei denen relativ viel einfache Arbeit eingesetzt werden muss, ins Ausland. Dies ist eine neuere Entwicklung, die seit etwa Mitte der neunziger Jahre zu beobachten ist und erhebliche Ausmaße angenommen hat.

Diese Entwicklung habe ich als Weg in die Basar-Ökonomie karikiert, weil sie eine schleichende Aushöhlung der in den produzierten Gütern enthaltenen Wertschöpfung bedeutet. Im Endeffekt schrauben die Firmen die in Niedriglohnländern vorfabrizierten Teile in Deutschland nur noch zusammen, kleben ein "made in Germany"-Schild auf die fertige Ware und verkaufen sie dann über den deutschen Tresen weiter in die Welt.

Der Basar-Effekt kommt durch das sogenannte Outsourcing und Offshoring zustande. Outsourcing ist der Ersatz eigener Vorproduktion durch den Kauf von Vorprodukten bei Zulieferern, die zumeist im Ausland produzieren. Offshoring ist der Ersatz inländischer Vorproduktion durch eigene Niederlassungen, die das Unternehmen auf dem Wege der Direktinvestition im Ausland errichtet.

Der Porsche Cayenne ist kein deutsches Auto

Ein mittlerweile wohl bekanntes Beispiel für den Basar-Effekt ist der Porsche Cayenne, ein Wagen aus der Kategorie der SUVs (Sports Utility Vehicles), die in Amerika soviel Anklang finden. Der Wagen wird scheinbar in Leipzig gefertigt, wohin die Fertigung mit Riesenzuschüssen in Form verbilligt überlassener Grundstücke gelockt wurde. Doch in Wahrheit werden dort nur die Teile zusammengeschraubt. Der Antriebsstrang kommt aus Stuttgart-Zuffenhausen, und die massige Karosserie kommt fast fix und fertig vom VW-Werk in Bratislava.

Die Kunden aus aller Welt, die bei Porsche kaufen, haben das Gefühl, ein deutsches Auto zu erwerben, doch in Wahrheit sitzen sie einem Etikettenschwindel auf. Beim Cayenne werden sogar die Außenhandelsstatistiken verzerrt. Wenn er nämlich nach Amerika exportiert wird, steht er zu 100 Prozent in der deutschen Exportstatistik, obwohl wahrscheinlich nur der kleinere Teil der Wertschöpfung in Form von Gewinnen, Löhnen, anderen Einkommen und Deckungsbeiträgen für Abschreibungen in Deutschland anfällt.

Der Basar-Effekt kennzeichnet die Entwicklung des verarbeitenden Gewerbes in Deutschland mindestens seit Mitte der neunziger Jahre und wirkt hierzulande stärker als anderswo. Die Fertigungstiefe des verarbeitenden Gewerbes hat sich speziell in Deutschland mit geradezu atemberaubendem Tempo verringert. Die Fakten liegen klar auf dem Tisch. Die Frage ist nur, ob diese Entwicklung gut oder schlecht ist. Wie ist das Phänomen zu bewerten? Wie kommt Deutschland mit der neuen Welle der Globalisierung, die seit der Beteiligung der exkommunistischen Länder zu beobachten ist, zurecht? Gelingt es uns, unsere bisherigen Handelsgewinne, denen wir den Wiederaufstieg nach dem Zweiten Weltkrieg verdanken, weiter zu steigern, oder gehen wir diesmal bei der Verteilung der Handelsgewinne leer aus?

Die Antwort ist schon deshalb nicht einfach, weil sich betriebs- und volkswirtschaftliche Sichtweisen nicht entsprechen. Aus betriebswirtschaftlicher Sicht ist die Bewertung einfach. Da die Firmen ihre Produktion freiwillig ins Ausland verlagern, müssen sie ihre Gewinne dadurch ja wohl steigern können. Wäre das nicht der Fall, würden sie die Verlagerung nicht vornehmen. Die Aktionäre freuen sich darüber, daß die teuren deutschen Arbeiter durch ausländische Niedriglöhner ausgetauscht werden, und der Dax feiert stets wieder neue Rekorde. Dieses Argument ist so schrecklich richtig, dass es schon wieder trivial ist. Aus volkswirtschaftlicher Sicht gibt es nichts her, denn dass eine Gruppe der Gesellschaft ihr Einkommen steigern kann, besagt nicht, dass Deutschland insgesamt profitiert.

Ausländische Arbeitnehmer sind Lohnkonkurrenten

Man kann die deutschen Arbeitnehmer als mögliche Verlierer des Prozesses nicht gedanklich ausblenden. Dass die Arbeitnehmer Verlierer sein könnten, wird freilich bestritten. So ist zu hören, dass Outsourcing und Offshoring für die deutschen Arbeitnehmer gut seien, weil es für sie neue Arbeitsplätze schaffe. Deutsche Arbeitnehmer und ausländische Arbeitnehmer in den Niederlassungen seien Komplemente, also Partner, die sich gegenseitig brauchen. Je mehr Beschäftigung im Osten geschaffen werde, desto höher sei die Beschäftigung im Westen. Von einer Verlagerung von Arbeitslätzen nach Osteuropa könne insofern nicht die Rede sein. Das ist zu schön, um wahr zu sein. Wie eine Ifo-Studie auf der Basis des Mikrodatensatzes über Direktinvestitionen bei der Deutschen Bundesbank gezeigt hat, gibt es für einen solchen Optimismus leider keine Veranlassung. Deutsche und ausländische Arbeitnehmer sind keine Komplemente, sondern Substitute und daher unmittelbare Lohnkonkurrenten. Ausländische Arbeitnehmer ersetzen deutsche Arbeitnehmer eher, als dass sie sie ergänzen. Die Arbeitslosigkeit nimmt zu, weil die Industriebasare wegen ihrer hohen Kapitalintensität die in den anderen Sektoren freigesetzten Arbeitskräfte nicht beschäftigen können, und das Exportvolumen wird gewaltig aufgebläht, was viele ins Staunen versetzt. Die Wertschöpfung im Export entwickelt sich zu schnell, und weil die Fertigungstiefe zu schnell sinkt, steigt auch die Exportmenge pro Einheit Wertschöpfung zu schnell. Der Motor wird mit Vollgas gefahren, und dann wird auch noch der höchste Gang eingelegt. Das macht zwar Tempo 250, aber gesund ist diese Fahrweise nicht, so laut auch immer die Beifallsbekundungen einiger draufgängerischer Passagiere ausfallen.

Die These, Deutschland profitiere von der Globalisierung, weil seine exportinduzierte Wertschöpfung besonders schnell steigt, ist ökonomisch sinnlos. Diese These entspringt einer allzu primitiven Sicht des marktwirtschaftlichen Geschehens, die keynesianische Nachfrageeffekte unbesehen von der kurzen auf die lange Frist überträgt. Gerade weil starre Löhne die arbeitsintensiven Sektoren zu stark zurückdrängen und Kapital und Arbeit in die kapitalintensiven Sektoren vertreiben, wächst die exportinduzierte Wertschöpfung besonders stark, während gleichzeitig Arbeitslosigkeit und Wohlfahrtsverluste entstehen. Arbeitslosigkeit, wachsende Wertschöpfung im Außenhandel, Basar-Effekt und Exportrekorde sind die gemeinsamen Kennzeichen einer pathologischen Reaktion auf die Kräfte der Globalisierung, die durch die Starrheit der Löhne hervorgerufen wird.

Es ist schwierig zu beantworten, ob Deutschland von der Globalisierung im allgemeinen und vom Basar-Effekt im besonderen profitiert. Sicherlich profitieren Deutschlands Exportfirmen und die Firmen des verarbeitenden Gewerbes vom Basar-Effekt. Ihre Wettbewerbsfähigkeit wird gestärkt. Doch zugleich ist die Wettbewerbsfähigkeit der teuren deutschen Arbeiter gefährdet. Sie ist genau deshalb gefährdet, weil die Firmen ihre Wettbewerbsfähigkeit durch Outsourcing und Offshoring in die Niedriglohngebiete erhalten können, was ihnen eine Mischkalkulation bei den Lohnkosten erlaubt.

Ost-West-Handelsdrehscheibe schafft ein neues Wirtschaftswachstum

Der Basar-Effekt ist nicht grundsätzlich schlecht für Deutschland, im Gegenteil: Das Land hat die Möglichkeit, durch den Wandel zur Handelsdrehscheibe zwischen Ost und West die Basis für ein neues Wirtschaftswachstum zu legen. (...) Auch mit Basar-Tätigkeiten läßt sich gutes Geld verdienen. Die Ingenieure, die Kaufleute, die Designer, die Vertreter, die Marketing-Fachleute, die für die Zuarbeit zu den Basaren gebraucht werden, üben hochwertige, gut bezahlte Tätigkeiten aus.

Aber man darf es nicht übertreiben. Wenn uns die Industriebeschäftigung schneller wegbricht, als wir anderswo Ersatz schaffen können, haben wir ein ernsthaftes Problem. Damit das nicht geschieht, müssen die deutschen Arbeitsmärkte in puncto Lohn und Art der Arbeit hinreichend flexibel sein, um trotz eines umfangreichen Wandels in der Sektorstruktur zur Vollbeschäftigung zurückkehren zu können.

Die Arbeiter sind die Verlierer der Globalisierung. Das ist schlimm genug. Daß es den Unternehmern und den "Studierten" statt dessen besser geht, ist ihnen kein Trost, ganz im Gegenteil. Wenn wir runtermüssen, dann alle, lautet die geheime Devise der Nation. Die schweigende Zustimmung, die diese Forderung genießt, macht eine weitere Steigerung der Handelsgewinne für Deutschland unwahrscheinlicher. Wachstumsschwäche und Massenarbeitslosigkeit sind vorprogrammiert.

Leicht gekürzte Fassung von „Arbeiter sind die Verlierer, erschienen in „Welt am Sonntag“ am 25.10.2005.