Korken auf den Wogen

Deutschland rutscht in die schwerste Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit. Wie sollten Politik und Wirtschaft gegensteuern? Ein Jahresausblick von Hans-Werner Sinn.
Autor/en
Hans-Werner Sinn
Wirtschaftswoche, 05.01.2009, Nr. 1/2, S. 33

Das ifo Institut beobachtet die Konjunktur seit 60 Jahren, aber noch nie waren die Aussichten zum Jahreswechsel so trüb wie jetzt. Für das kommende Jahr rechnen wir mit einer Schrumpfung der Wirtschaftsleistung um 2,2 Prozent, und damit stehen wir nicht allein. Das RWI prognostiziert ein Minus von 2,0 Prozent, das Kieler Institut für Weltwirtschaft von 2,7 Prozent, und aus dem Wirtschaftsministerium hört man inoffiziell gar eine Zahl von drei Prozent. Die Reise geht mit raschen Schritten bergab.

Deutschland folgt damit den USA. Beim Aufschwung, der in der zweiten Jahreshälfte 2005 begann, folgten wir den Amerikanern mit gut eineinhalb Jahren Verzögerung, und beim Abschwung ist es ähnlich. Die amerikanische Immobilienblase platzte vor zwei Jahren, und seit eineinhalb Jahren steigt die Arbeitslosigkeit in den USA. Inzwischen hat die amerikanische Arbeitslosigkeit ihren letzten Höhepunkt, der im Frühsommer 2003 zur Zeit des Irak-Kriegs verzeichnet wurde, schon deutlich überschritten. Demgegenüber liegt die deutsche Arbeitslosigkeit auf dem niedrigsten Wert seit 16 Jahren. Erst im Verlauf des Jahres 2009 wird sie wieder deutlich ansteigen, schätzungsweise um etwa eine halbe Million.

Frühestens im Winter 2009/10 werden wir beim Konjunkturzyklus da sein, wo die Amerikaner jetzt stehen. Die Auslastung des deutschen Produktionspotenzials war im Herbst noch überdurchschnittlich und ist vermutlich erst zum Jahresende knapp unter den Durchschnitt gefallen. Der Einzelhandel meldete bei der Dezember-Umfrage des ifo Instituts noch recht stabile Zahlen. Was man inzwischen über das Weihnachtsgeschäft gehört hat, bestätigt diese Information. Auch die Bauwirtschaft bekundete bei unserer jüngsten Umfrage, dass sie noch gut beschäftigt ist.

Die Negativnachrichten, die im zurückliegenden Jahr zum Absturz des ifo-Geschäftsklimaindex geführt haben, blieben zunächst auf das verarbeitende Gewerbe beschränkt und konzentrierten sich auf den Export. Diese Sektoren werden in den kommenden Monaten noch stärker in den Strudel des Abschwungs gezogen werden. Erst danach dürfte sich die Rezession in die anderen Branchen der Wirtschaft fortpflanzen. Zunächst wird der Bau erfasst werden, dann die Konsumgüterbranche.

Der Abschwung der Weltwirtschaft trifft Deutschland mit besonderer Härte. Zum einen sind wir mit einer Exportquote von 48 Prozent in besonderer Weise vom Ausland abhängig. Zum anderen bestehen die Exporte zu einem vergleichsweise hohen Anteil aus Investitionsgütern, die als cycle makers der Weltwirtschaft gelten. Die Investitionsgüternachfrage schwankt stets stärker als andere Komponenten der weltwirtschaftlichen Nachfrage. Davon hat Deutschland in den letzten drei Jahren profitiert, als die Reise nach oben ging, doch nun spürt es die Kehrseite der Exportabhängigkeit. Das ifo Institut schätzt, dass die Exporte im Jahr 2009 um etwa sechs Prozent schrumpfen werden. Zusammen mit den um zehn Prozent zurückgehenden Ausrüstungsinvestitionen und den um knapp zwei Prozent sinkenden Bauinvestitionen erklärt dies den prognostizierten Einbruch der Wirtschaftsleistung um 2,2 Prozent. Die erwartete Zunahme des privaten und öffentlichen Konsums von 0,6 beziehungsweise 2,0 Prozent reicht nicht aus, diese Negativeffekte zukompensieren.

Deutschland hat seine Kräfte über Jahrzehnte hinweg auf den Export von Investitionsgütern konzentriert. Das war eine solidere Strategie, als auf Finanzdienstleistungen zu setzen. Doch erzeugt diese Abhängigkeit von den Investitionsgüterexporten permanent Schocks und Störungen im Wirtschaftsablauf, die anderen Ländern in dieser Heftigkeit erspart bleiben. Deutschland schwimmt wie ein Korken auf den Wogen der Weltkonjunktur.

Die Störanfälligkeit tritt zu den strukturellen Nachteilen hinzu, die ich in früheren Publikationen als "pathologischen Exportboom" bezeichnet habe. Deutschland hat die arbeitsintensiven Sektoren der Binnenwirtschaft von der Textilindustrie bis zur Elektronik und Feinmechanik über Jahrzehnte hinweg durch eine ausufernde Lohnpolitik vernichtet und durch Importe aus Niedriglohnländern ersetzt. Das Investitionskapital und die hoch qualifizierte Arbeit flohen vor den hohen Löhnen der einfachen Arbeiter in die kapital- und wissensintensiven Endstufen der Exportsektoren. Da sie nur einen Teil dieser Arbeiter mitnehmen mussten und den Rest der Fürsorge des Sozialstaates überlassen konnten, gelang es ihnen dort zwar, wettbewerbsfähig zu bleiben und wachsende Wertschöpfungsbeiträge zu erwirtschaften, insbesondere auf den Endstufen der Produktion (Basar-Effekt). Doch ging dabei in den Binnensektoren mehr Wertschöpfung verloren, als im Export neu entstand. Deutschland wurde mit großem Abstand vor allen anderen OECD-Ländern Weltmeister bei der Arbeitslosigkeit der gering Qualifizierten und zugleich Schlusslicht beim längerfristigen Wachstum in Europa.

Das bereitet im Moment aber nicht die größten Sorgen, zumal die zurückhaltende Lohnpolitik der vergangenen Jahre und die Agenda 2010 bereits eine Trendwende eingeleitet haben. Alles wird von der Weltwirtschaftskrise überlagert, die Deutschland über die beschrieben Nachfrageeinbrüche und die Bankenkrise erfasst und die Politik vor große Herausforderungen stellt.

Die Politik beschäftigt sich zurzeit mit einem weiteren Konjunkturpaket, doch noch viel wichtiger ist die Bewältigung der Bankenkrise. Obwohl die Kernschmelze des Bankensystems mit umfangreichen Rettungspaketen von weltweit etwa 3,5 Billionen Euro verhindert werden konnte, ist es der deutschen Politik noch nicht gelungen, den raschen Anstieg der Kredithürden zu verhindern, die die deutschen Banken gegenüber ihren Kunden aufbauen. Bei der Dezember-Umfrage des ifo Instituts klagten bei stark steigender Tendenz bereits 40 Prozent der Unternehmen insgesamt und 48 Prozent der Großunternehmen, dass die Kreditvergabe der Banken restriktiv sei. Die Kreditklemme ist damit zu einer besonders akuten Gefahr für die deutsche Konjunktur geworden - zu einer Gefahr freilich, gegen die die Politik etwas unternehmen kann. Weder Angela Merkel noch Peer Steinbrück können die deutschen Exporte wieder beleben. Aber sie können das Rettungspaket nachbessern, das sie für die Banken geschnürt haben.

Das Problem für fast alle deutschen Banken besteht ja darin, dass sie durch die Abschreibungen auf Aktien und die problematischen amerikanischen Schuldverschreibungen viel Eigenkapital verloren haben und nun mit den Basel-II-Regeln in Konflikt geraten, die sie zwingen, ihre Ausleihungen zu bestimmten Quoten mit Eigenkapital zu unterlegen. Um die erforderlichen Quoten wieder zu erreichen, haben die Banken die Möglichkeit, sich aus dem staatlichen Rettungspaket Eigenkapital zu besorgen oder ihre Ausleihungen zu reduzieren. Wer nicht anders kann, nimmt das staatliche Eigenkapital. Praktisch alle privaten Banken präferieren zurzeit aber noch den zweiten Weg, denn niemand will, dass der Staat mitregiert, und von der Begrenzung der Vorstandsgehälter hält man erst recht nichts, auch wenn dieser Aspekt höflicherweise in den Hintergrund gestellt wird. "Runter mit dem Geschäftsvolumen!" ist derzeit die einhellige Devise in den Bankvorständen, und genau das ist das Problem für den Rest der Wirtschaft.

Die große Gefahr einer solchen Politik des "Deleveraging" liegt darin, dass dringend notwendige Refinanzierungen der Unternehmen unterbleiben, was erhebliche Konkursgefahren heraufbeschwört. Zudem ist der Kreditkanal von den Sparern zu den Investoren auch für neue Projekte blockiert. Das zieht die Investitionsgüterindustrie vom Bau bis zu den Ausrüstern zusätzlich in Mitleidenschaft - und beschleunigt somit den konjunkturellen Abschwung.

Das Problem wird sich im kommenden Jahr noch erheblich verschärfen, wenn sich das Rating der Kreditnehmer, also der Firmen, die sich über die Banken finanziert haben, wegen der schrumpfenden Gewinne und der trüben Geschäftsaussichten weiter verschlechtert. Die Banken müssen den vergebenen Krediten dann nämlich höhere Risikogewichte zuweisen, was ihre Kernkapitalquoten weiter verschlechtert (das sogenannte Covernants-Problem) und weitere Kreditkürzungen verlangt. Hinzu könnten Ausfälle bei den Kreditversicherern kommen, die die Banken zwingen würden, die Risikogewichte von versicherten Ausleihungen von null auf 100 Prozent zu erhöhen. Selbst die Deutsche Bank, die eine ordentliche Kernkapitalquote hat, doch bezüglich der Bilanzsumme zuletzt nur über eine Eigenkapitalquote von 1,9 Prozent verfügte, könnte dann in Schwierigkeiten kommen.

Um solche Probleme von vornherein abzublocken, ist es erforderlich, den Banken das dafür im Rettungspaket vorgesehene Eigenkapital im Umfang von 80 Milliarden Euro tatsächlich zuzuführen. Mit bloßen Ermahnungen seitens der Politik ist es angesichts der Schwere der Probleme nicht mehr getan. Vielmehr ist der deutschen Politik zu raten, den englischen Weg zu gehen. In Großbritannien wird von den Banken eine Kernkapitalquote von neun Prozent verlangt, und dieser Prozentsatz wird im Wesentlichen auf die Ausleihungen der letzten vier Jahre berechnet, sodass den Banken der Weg über die bloße Reduktion des Geschäftsvolumens versperrt ist. Die Banken können sich das Eigenkapital am Markt besorgen. Doch wenn sie das nicht schaffen, müssen sie das staatliche Geld nehmen.

Die Maßnahmen zur Vermeidung der Kreditklemme sind zugleich die dringlichsten Maßnahmen zur Konjunkturstabilisierung, denn wie gesagt bricht die Konjunktur zuerst beim Export und bei den Investitionen zusammen. Anreize wie die bereits beschlossene Wiedereinführung der beschleunigten Abschreibung oder Investitionssubventionen im Umweltbereich verpuffen, wenn die Banken den Kredithahn zudrehen.

Weitere konjunkturstabilisierende Maßnahmen, die jetzt vorbereitet werden sollten, sind steigende öffentliche Ausgaben für die Verbesserung der Infrastruktur. Aber auch hier gilt, dass Geld nicht alles ist. Fast wichtiger noch als die Zuweisung staatlicher Mittel wäre ein Beschleunigungsgesetz, wie es nach der Vereinigung in den neuen Bundesländern eingeführt wurde, um damit die rechtlichen Blockaden bei der Durchführung von Großprojekten zu überwinden. Durch ein solches Gesetz ließen sich nicht zuletzt milliardenschwere Investitionen bei den deutschen Energieversorgern aktivieren, die derzeit mit ihren Großprojekten fast überall auf Widerstand stoßen.

Maßnahmen zur Stärkung der Massenkaufkraft, wie sie derzeit von der Politik wegen der bevorstehenden Wahlen in den Vordergrund gestellt werden, sind für das zweite Halbjahr nützlich, um Zweitrundeneffekte auf die Konjunktur abzubremsen. Konjunkturell gesehen kann man damit aber auch noch etwas warten. Gar nicht erforderlich sind Maßnahmen zur Erhöhung der Kaufkraft von staatlichen Transferempfängern, denn die Industrien, die diese Bevölkerungsgruppen beliefern, sind von der Krise überhaupt nicht betroffen.

Wetten aber, dass alles genau umgekehrt kommt?