Vampir Deutschland?

Es ist absurd, Deutschland als großen Europrofiteur und Kaufkrafträuber hinzustellen. Eine Replik auf Peter Bofinger
Autor/en
Hans-Werner Sinn
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 07.04.2014, Nr. 82, S. 18

Die These, Deutschland habe sich gegenüber dem Ausland „wie ein Vampir" verhalten, hat Peter Bofinger vor kurzem auf der „Volkswirt"-Seite in dieser Zeitung aufgestellt (FAZ. vom 24. März). Deutschland habe mit seinen Warenexporten dem globalen System Kaufkraft entzogen, weil es seine Exporterlöse nicht wieder  vollständig für den Kauf von Importen verwendet habe. Die Absorption der Kaufkraft habe Deutschland „massive Wachstumsimpulse" verschafft, bei den ausländischen Partnern aber eine Nachfrageschwäche mit Wachstumsverlusten erzeugt.

Bofinger widerspricht meiner Argumentation, aber da er sie verballhornt, wiederhole ich sie hier lieber noch einmal selbst: Ich sehe die deutschen Exportüberschüsse als Ergebnis einer von den Kapitalanlegern gewünschten Portfolioumschichtung. Der Umschichtungswunsch betraf Anlagen in aller Welt, unter anderem in den Vereinigten Staaten, aber vor allem auch in Südeuropa. Bei Letzteren wurde der Wunsch durch den Euro induziert.

Die unwiderrufliche Ankündigung des Zeitplanes für die Einführung des Euro auf dem Gipfeltreffen von Madrid im Dezember 1995 hat den Investoren das Investitionsrisiko in Südeuropa genommen. In der Folge fielen dort die Zinsen. Das ließ die Kreditnachfrage der dortigen Wirtschaft steigen und veranlasste die Staaten, sich mehr zu verschulden, den Staatsbediensteten höhere Löhne zu zahlen und noch mehr von ihnen einzustellen. All dies setzte einen nachfragegetriebenen Boom in Gang, der die Einkommen und mit ihnen die Importe erhöhte, während die Wettbewerbsfähigkeit der Exporte durch kreditfinanzierte Lohnerhöhungen unterminiert wurde.

Die Kehrseite dieser Entwicklung war, dass in Deutschland kaum noch investiert wurde. Das Gold schien anderswo heller zu glänzen als hierzulande. Die fehlenden Investitionen führten zu einem Ausfall der Binnennachfrage, zu einer hohen Arbeitslosigkeit und zu nur noch moderat steigenden Löhnen. Wegen der Flaute blieben die deutschen Importe ohne Dynamik, während die Lohnzurückhaltung die Exporte belebte. Im Export wurde zwar der Ausfall der Binnennachfrage teilweise wettgemacht, doch war die für wirtschaftliches Wachstum unerlässliche Ausweitung der Produktionskapazitäten durch Investitionen zu schwach.

Wie es der deutsche Leistungsbilanzüberschuss präzise misst, wurden in riesigem Umfang deutsche Ersparnisse ins Ausland verlagert. Das war eine Übertragung von Kaufkraft von deutschen Kreditgebern an Kreditnehmer in anderen Ländern, aber eben nicht ein Raub von Kaufkraft, wie es Bofinger suggeriert.

Und deswegen wuchs Deutschland auch langsamer und nicht etwa schneller. Innerhalb von zwei Jahren nach dem Gipfel von Madrid im Jahr 1995 setzte eine fast perfekte Zinskonvergenz ein, und das deutsche Wachstum erlahmte. Von 1995 bis 2013 wuchs die deutsche Wirtschaftsleistung nur um 26 Prozent. Währenddessen wuchsen die Länder, die 2013 der Eurozone angehörten, um durchschnittlich 29 Prozent, dabei Frankreich um 31 Prozent, Spanien um 46 Prozent und Irland um 113 Prozent. Auch Griechenland und Portugal wuchsen lange Zeit schneller, doch hat sie die Krise der letzten Jahre mehr zurückgeworfen, als sie vorher zugelegt hatten. Italien war immer in der Flaute. Während einiger Jahre nach der  Euroeinführung wuchs Deutschland freilich noch langsamer als Italien. Es trug damals die rote Laterne in Europa.

Sicher, die letzten vier Jahre liefen deutlich besser für Deutschland. Der Boom war aber nicht so stark, dass er die vorangegangene Flaute kompensieren konnte. Das sieht man auch am BIP pro Kopf: Zur Zeit des Gipfeltreffens von Madrid lag Deutschland unter den jetzigen Euroländern hinter Luxemburg an zweiter Stelle, obwohl die Eingliederung Ostdeutschlands das BIP pro Kopf zuvor stark reduziert hatte. Wegen des stürmischen Wachsturns, das der Euro den Südländern brachte, rutschte Deutschland dann aber bis 2005 auf den achten Platz ab, und erst in der Finanzkrise hat es sich wieder auf den siebten Platz vorgerobbt. Die These, Deutschland habe den Partnern durch den Entzug von Kaufkraft Wachstum geraubt, ist angesichts dieser Zahlen nicht haltbar.

Sie ist auch schon deshalb nicht haltbar, weil Deutschlands Investitionen in dieser Zeit erlahmten. In den fünf Jahren vor dem Ausbruch der Krise (2003 bis 2007) lagen die Nettoinvestitionen relativ zur Wirtschaftsleistung auf dem niedrigsten Stand aller Euroländer. Deutschland hat in dieser Zeit 60 Prozent seiner gesamtwirtschaftlichen Ersparnis exportiert, statt sie zu Hause zu investieren.

Der deutsche Boom kam erst nach dem Ausbruch der Krise zustande, weil sich die Anleger nach dem Platzen der Wirtschaftsblasen in Süd- und Westeuropa wieder auf die als sicher erscheinenden deutschen Sachwerte konzentrierten. Das hat seit 2010 einen Bauboom und neuerdings einen Boom der Ausrüstungsinvestitionen hervorgerufen. Wenn dieser Trend anhält, könnte Deutschland tatsächlich mittelfristig wieder in der Rangordnung der Staaten aufsteigen. Dann fallen auch die deutschen Exportüberschüsse wieder, weil die Löhne steigen und aus den wachsenden Einkommen wieder mehr Importe finanziert werden.

Noch ein Wort zu den theoretischen Ausführungen Bofingers. Natürlich können Banken Kredite mit selbstgeschaffenem Geld vergeben. Das heißt aber erstens nicht, dass Investitionen ohne Ersparnis möglich sind. Kredite werden nur dann zu Investitionen, wenn ein Boom im Inland mehr Ersparnis erzeugt oder wenn ein Leistungsbilanzdefizit entsteht, durch das Ersparnisse aus dem Ausland  hereinkommen. Wenn weder das eine noch das andere passiert, entsteht Inflation, die den Realwert des Geldkredits entwertet.

Zweitens heißt es nicht, dass die Banken unabhängig von den internationalen Illustration Peter von Tresclow Kapitalmärkten agieren. Die Banken wagen es nur, mit Krediten in Vorlage zu gehen, wenn sie sich günstig refinanzieren können. Das wiederum hängt von den Portfolioentscheidungen der Anleger ab, konkret von den Bedingungen, unter denen die Anleger bereit sind, Refinanzierungskredite zu geben. Aus der Kreditschöpfung entsteht mit einer gewissen Verzögerung ein Boom, und aufgrund des Booms ändern sich die Leistungsbilanzsalden.

Dies ist das Grundgesetz des Kapitalismus: Wenn die Anleger Kapital von Region A zu Region B verlagern wollen, boomt B und A kommt in die Flaute. Deutschland war nach der Ankündigung und Einführung des Euro die meiste Zeit das Flautegebiet A mit dem  Leistungsbilanzüberschuss. Es versucht nun, nach Ausbruch der Krise und behindert durch die Euro-Rettungsarchitektur, in die Boomposition B zu wechseln. Aber es ist noch nicht klar, ob ihm das nachhaltig gelingt. Wenn es ihm gelingt, werden die Leistungsbilanzüberschüsse wieder kleiner.

Exportüberschüsse sind definitionsgemäß Kapitalexporte. Nichts könnte absurder sein, als die durch die  Portfolioumschichtungen induzierten Kapitalexporte als Kaufkraftraub eines deutschen Dracula oder den in der Zukunft möglichen Rückgang dieser Kapitalexporte als Draculas neue Genügsamkeit zu interpretieren.