So wurden die Euro-Retter erpressbar

Deutschland steckt in der Target-Falle, sagt Ökonom Hans-Werner Sinn. In seinem neuen Buch erklärt er, wieso ein kompliziertes Zahlungssystem der EU uns dazu treibt, mit immer mehr Geld den Euro zu retten. Ein Vorabdruck.
Autor/en
Hans-Werner Sinn
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 07.10.2012, Nr. 40, S. 32

Die volle Dimension der Rettungsaktionen der EZB wird an den sogenannten Target-Salden deutlich. Die politisch Verantwortlichen auf europäischer oder nationaler Ebene wissen darüber wenig, weil es um Kreditflüsse geht, die durch die verschlungenen Kanäle des Zentralbanksystems laufen, und sie wollen es offenbar auch gar nicht wissen, um sich damit nicht zu belasten.

Die Bundesregierung weigert sich bisher, sich mit der Target-Problematik öffentlich auseinanderzusetzen. Diese abwiegelnde Haltung ist verblüffend, denn mittlerweile spricht die gesamte Finanzwelt darüber. Spätestens seit dem Warnschuss, den die Ratingagentur Moody's abgab, kann die deutsche Bundesregierung ihre Position nicht mehr halten. Moody's ist eine der beiden großen Ratingagenturen der Welt. Sie hat nun die Target-Salden Deutschlands explizit als einen der Gründe dafür angeführt, dass die Aussicht für Deutschlands Rating von "stabil" auf "negativ" geändert wurde.

Target ist der Name des Zahlungssystems, über das die internationalen Zahlungen zwischen Banken im Euroraum abgewickelt werden. Er ist das Akronym eines komplexen Ausdrucks, den man am besten sofort wieder vergisst, wenn man ihn gehört hat, weil er nichts zum Verständnis beiträgt. Das Target-System transferiert und misst die Geldüberweisungen zwischen den nationalen Notenbanken der Euroländer aufgrund von internationalen Überweisungsaufträgen, die private und öffentliche Finanzinstitute ihren jeweiligen Geschäftsbanken geben. Ein Target-Defizit einer nationalen Notenbank ist ein Nettoabfluss an Eurogeld in ein anderes Land oder das, was die Ökonomen ein Zahlungsbilanzdefizit nennen. Entsprechend ist ein Target-Überschuss ein Nettozufluss an Eurogeld von anderen Ländern oder ein Zahlungsbilanzüberschuss.

Im Euroraum fließen die auf Euro lautenden Zahlungen der Händler und Finanzinstitute kreuz und quer hin und her, innerhalb der Länder und über die Grenzen, aber nur die grenzüberschreitenden Zahlungsströme werden im Target-System erfasst. Man wohnt im einen Land, kauft Güter im zweiten und liefert ins dritte. Es werden Aktien, Schuldverschreibungen, Immobilien und ganze Fabriken über die Landesgrenzen hinweg gekauft und verkauft. Neue Kredite werden aufgenommen, und alte getilgt. Immer führen diese Zahlungsvorgänge zu Geldströmen im Raum, aber es kommt in der Regel nicht zu Nettogeldströmen, weil sich die Zu- und Abflüsse die Waage halten. Eine solche Normalsituation bezeichnet man als Zahlungsbilanzgleichgewicht.

Von einem Ungleichgewicht in der Zahlungsbilanz spricht man, wenn mehr Geld in die eine als in die andere Richtung über die Grenzen fließt, wenn sich also Zuflüsse und Abflüsse nicht aufheben und ein Saldo entsteht.
 

Man sieht, dass im Euroraum bis etwa zum Sommer 2007 approximativ ein Zahlungsbilanzgleichgewicht vorlag. Zwar waren die Salden nie exakt null, weil die internationalen Zahlungsströme von vielerlei stochastischen Einflüssen abhängen, doch die Abweichungen waren sehr klein. So lag die Summe der Target-Forderungen der Überschussländer bei nur etwa 1,3 Prozent des BIP der Eurozone.

Nennenswerte Ungleichgewichte ergaben sich erst nach dem August 2007, weil damals der europäische Interbankenmarkt das erste Mal in Unordnung geriet. Da die Banken Frankreichs, Deutschlands und der Niederlande ihre Kredite nur noch zögerlich ins Ausland vergaben, mussten die GIPSZ-Länder (das sind Griechenland, Irland, Portugal, Spanien, Zypern, Anmerkung der Redaktion), die allesamt große Defizite in der Leistungsbilanz hatten, ihre Güterkäufe durch die Hergabe von Geld finanzieren, ohne dass ihnen in entsprechendem Umfang Geld aus dem Ausland zufloss. Sie haben dann die Geldverluste durch die (elektronische) Notenpresse ersetzt. Im Falle Irlands und seit dem Sommer 2011 auch Spaniens und Italiens kam es sogar zu einer Kapitalflucht in dem Sinne, dass die Banken der europäischen Kernländer ihre dorthin verliehenen Kreditbestände repatriierten. Bereits seit dem Sommer 2007 floss Geld aus den GIPSZ-Ländern heraus, während in Deutschland, den Niederlanden, Finnland und Luxemburg wachsende Geldmengen anlandeten. Bis zum Juli 2012 war Deutschland per Saldo ein Geldbestand von 727 Milliarden Euro zugeflossen. In den Niederlanden waren bis zum Juni 126 Milliarden Euro angelandet, in Finnland bis zum Mai 54 Milliarden Euro und in Luxemburg bis zum Mai 128 Milliarden Euro.

Insgesamt ist es bemerkenswert, welche Dramatik die Zahlenreihen aufweisen. Noch im Frühjahr 2011, als Deutschland bei etwas mehr als 300 Milliarden Euro lag, hieß es, die Zahlen würden ja bald wieder zurückgehen, und es zeichne sich am aktuellen Rand ja schon eine Beruhigung ab. Davon kann keine Rede sein. In den letzten zwölf Monaten vor Abschluss dieses Manuskripts (Juli 2011 bis Juli 2012) stieg der deutsche Target-Saldo jedes Vierteljahr im Schnitt um etwa 100 Milliarden Euro oder 32 Milliarden Euro pro Monat. Wie der Leser der dargestellten Kurve unschwer entnehmen kann, stieg selbst dieser Zuwachs unter gewissen Schwankungen von Monat zu Monat weiter an. Man spricht manchmal bei solchen Entwicklungen von explodierenden Reihen. Zu hoffen ist, dass das nicht allzu wörtlich zu nehmen ist.
 

Obwohl die Target-Salden Zahlungsbilanzsalden sind, messen sie auch Kredite zwischen den Notenbanken des Eurosystems. Das ist auf den ersten Blick nicht offenkundig, denn normalerweise ist mit der Vergabe eines Kredits auch eine Übergabe von Geld verbunden. Man fragt sich also, wo und wie etwa die Deutsche Bundesbank der griechischen Zentralbank Geld gegeben hätte. Das hat sie natürlich nicht. Das Kreditverhältnis entsteht vielmehr dadurch, dass beispielsweise beim Kauf einer deutschen Ware durch einen Griechen die Deutsche Bundesbank eine von der griechischen Zentralbank in Auftrag gegebene Überweisung durchführt. Dazu muss die Bundesbank der inländischen Geschäftsbank des deutschen Lieferanten eine Gutschrift erteilen, die für sie selbst eine Schuld gegenüber dieser Geschäftsbank darstellt. Gleichzeitig gewährt sie der griechischen Notenbank in Höhe der Gutschrift, die sie der inländischen Geschäftsbank erteilt hat, einen Kredit, den sie als Forderung in ihrer Bilanz verbucht. Es ist, als ob ich für meinen Freund, der sein Portemonnaie vergessen hat, eine Handwerkerrechnung bezahle. Ich gebe ihm durch die Ausführung der Zahlung an seiner Stelle einen Kredit und erwerbe dadurch eine Forderung gegen ihn.

Der Unterschied ist nur, dass mein Freund mir das Geld des Abends zurückgibt, während die Target-Forderung im Prinzip unbegrenzt stehen bleibt und niemals fällig gestellt werden kann. Griechenland bezieht also die Ware und lässt anschreiben, ohne selbst eine Ware zurückliefern zu müssen. Die Analogie zum Freund passt auch insofern nicht, als ich mich jederzeit entscheiden kann, ob ich meinem Freund aus seiner Bredouille helfe oder nicht. Beim Target-Kredit hat die Bundesbank hingegen keinerlei Entscheidungsfreiheit. Sie kann natürlich im EZB-Rat, wie sie es ja tut, für eine restriktivere Besicherungspolitik bei der Kreditgewährung und Geldschöpfung der griechischen Nationalbank stimmen, aber dort wird sie laufend überstimmt und kann wenig ausrichten. Sie muss die Zahlungen, die durch die großzügige Kreditpolitik induziert wurden, ausführen und kann sich nicht verweigern. So ist nun mal das Eurosystem.

Die Target-Kredite erklären, warum die Kapitalimporte der Krisenländer in der Krise noch immer riesig waren, obwohl die Krise ihre Ursache gerade darin hat, dass sich die Kapitalmärkte diesen Ländern verweigern. Sie sind der Rettungsschirm vor dem Rettungsschirm - der weiße Ritter, der als Ersatz für den wegbrechenden privaten Kapitalmarkt zur Verfügung stand. Das Volumen der Target-Kredite, die den Krisenländern zugutekamen, ist bald fünfmal so groß wie das der Staatspapierkäufe und mehr als doppelt so groß wie das der offiziellen Rettungskredite.

Für Gläubigerländer, allen voran Deutschland, sind die Target-Kredite ein Risiko, wie es auch andere öffentliche Hilfskredite sind. Wenn die Schuldner nicht zurückzahlen können, muss man die Forderungen abschreiben, und die Güter und Vermögensobjekte, die mit dem Target-Geld in den Kernländern erworben wurden, kommen nie wieder zurück. Dabei werden die deutschen Abschreibungsverluste freilich durch die Sozialisierung der Geldschöpfungsgewinne und -verluste im Euroraum reduziert, weil sich alle solvent bleibenden Notenbanken diese Verluste nach ihren Kapitalschlüsseln teilen. So würde zum Beispiel Deutschland bei einem Konkurs und Austritt der GIIPSZ-Länder aus dem Euroverbund nicht seine Target-Forderung von mittlerweile 727 Milliarden Euro (Ende Juli 2012) verlieren, sondern sich die Abschreibungsverluste auf die Target-Schulden dieser Länder, die zuletzt 971 Milliarden Euro betrugen, mit den anderen verbleibenden Euroländern teilen. Konkret würde Deutschland knapp 43 Prozent oder 416 Milliarden Euro verlieren.

Noch schlimmer würde es für Deutschland ausgehen, wenn der Euro zerbricht, denn in diesem Fall hat Deutschland eine Target-Forderung gegen ein System, das es nicht mehr gibt. Dann liegt der deutsche Target-Verlust auf der Basis der obigen Zahlen im August 2012 nicht bei 416 Milliarden Euro wie beim Austritt der GIIPSZLänder, sondern bei 727 Milliarden Euro.

Mit den Forderungen aus dem offenen Rettungsschirm ESM wäre Deutschland in diesem Fall noch deutlich besser bedient, denn einerseits wäre es nur mit seinem Kapitalanteil beteiligt und andererseits blieben die Staatspapiere auch dann noch rechtsgültige Forderungstitel, wenn der Euro durch andere Währungen ersetzt werden sollte. Sie sind zwar von einem Schuldenschnitt und einem Abwertungsverlust bedroht, doch nicht vom Ausfall der Rechtsgrundlage.

Für die Bundesbank wäre sowohl der Austritt und Konkurs der GIIPSZ-Länder als auch der Untergang des Euro eine Katastrophe, denn sie verfügt nur über Eigenkapital im Umfang von 134 Milliarden Euro. Zieht man die genannten Verluste ab, so hätte sie bei Austritt und Konkurs der GIIPSZ-Länder ein Eigenkapital von minus 282 Milliarden Euro und beim Zusammenbruch des Euro eines von minus 593 Milliarden Euro.

Dazu hört man manchmal das abwiegelnde Argument, das sei irrelevant, weil sich die Target-Verluste ohnehin alle im virtuellen Bereich bewegten und keine reale Bedeutung hätten. Die Bundesbank könne notfalls auch mit negativem Eigenkapital weiterarbeiten oder man könne sie mit einer unverzinslichen ewigen Ausgleichsforderung gegenüber dem deutschen Staat ausstatten, um ihr wieder Eigenkapital zu verschaffen. Das ist freilich zu schön, um wahr zu sein. Sicher, man kann die Bundesbank technisch mit solchen Tricks funktionsfähig halten, doch die Forderungen selbst lassen sich so nicht eintreiben. Für die Güter, die Deutschland ins Ausland verkauft hat und für die es bloße Target-Forderungen erhielt, wird es bei einem Konkurs der Krisenländer nie wieder adäquate Gegenwerte in Form anderer Güter zurückerhalten, und das ist kein virtueller Verlust, sondern ein ganz realer, der jeden Bürger betrifft.

Man kann in eine Falle tappen, die einem jemand gestellt hat. Man kann sich auch selbst eine Falle stellen. Welche dieser beiden Möglichkeiten auf die Target-Kredite zutrifft, kann man angesichts der Verve, mit der Helmut Kohl das Europrojekt verfolgt hat, und der Cleverness oder Weitsicht von Jacques Delors dahingestellt sein lassen. Tatsache ist aber, dass Deutschland heute in der Target-Falle steckt.

Das Target-System ist eine Falle, weil die Bundesbank nicht die Möglichkeit hat, ihre Target-Forderungen einzutreiben. Getilgt werden die Target-Kredite nur dann, wenn Deutsche wieder neue Kredite ins Euro-Ausland vergeben oder Anlageobjekte und Güter dort kaufen. Tun sie das nicht, weil sie Angst haben, dass die Kredite nicht bedient werden oder die Güter und Anlageobjekte zu teuer sind, bleiben die Forderungen notfalls ewig in der Bilanz stehen und erodieren mit der Inflation.

Das schlimmste Problem ist aber, dass die Target-Salden jener Länder, die bereits in der Target-Falle sitzen, sie zwingen, zum Erhalt ihrer Forderungen Rettungsmaßnahmen zuzustimmen, durch die sie immer tiefer in die Falle hineinrutschen. Das betrifft sowohl die Staatspapierkäufe der EZB als auch die öffentlichen Hilfsprogramme, über die die Parlamente entscheiden. Solche Maßnahmen lenken wieder neues Geld in die Krisenländer, weil sie selbst in Geldform gewährt werden, weil sie Haftung für private Darlehen bieten, die wieder in die Krisenländer vergeben werden, oder weil sie ganz unmittelbar Käufe von Wertpapieren anregen. Sie vermindern die Target-Kredite, indem sie andere Kredite an ihre Stelle setzen.

Das ist das wahre Problem der Target-Salden. Das EZB-System gab den Krisenländern die goldene Kreditkarte mit einem unbegrenzten Überziehungskredit, und damit dieser Kredit nicht in Anspruch genommen und bereits bestehender vielleicht sogar zurückgezahlt wird, muss die Platin-Karte her. Die Möglichkeit, sich Güter und Vermögenswerte in Deutschland auf Pump zu besorgen, indem man einfach nur bei der Bundesbank anschreiben lässt, erzeugt eine verhängnisvolle Pfadabhängigkeit der Politik, die in jeder Krise zu neuen Konzessionen gegenüber den Krisenländern zwingt.