Was können die Finanz-, Geld- und Tarifpolitik tun, um einen längeren Wirtschaftsaufschwung in Deutschland zu sichern? Dieser Frage geht die FR in einer Serie von Gastbeiträgen namhafter Okonomen nach. Den zweiten Teil bestreitet Professor Hans-Werner Sinn, Präsident des ifo Instituts für Wirtschaftsforschung in München.
Es geht mit der Konjunktur wieder bergauf. Seit dem Sommer steigt der Geschäftsklimaindex des ifo Instituts, der dank seiner vorausschauenden Perspektive und seiner breiten statistischen Basis der wichtigste deutsche Konjunkturindikator ist, fortwährend an. Monat um Monat überrascht das Ausmaß der konjunkturellen Besserung, das in den Befragungsergebnissen zum Ausdruck kommt. Nicht weniger als 2,7 Prozent reales Wachstum erwartet das ifo Institut für das Jahr 2000. Nach all den Jahren der Stagnation ist das seit 1994 endlich wieder ein ordentlicher Wert.
Der Aufschwung wird vor allem vom Ausland getragen. Die Asienkrise ist nun endgültig vorbei, und weltweit steht ein neuer Boom bevor, der seine Wirkungen auf ein so exportintensives Land wie Deutschland nicht verfehlen wird. Die guten Absatzerwartungen übertragen sich bereits auf die Investitionen, die zusätzlich durch die immer noch niedrigen Zinsen stimuliert werden. Der private Konsum zögert zwar noch ein wenig, doch sind erste Belebungstendenzen auch hier in Sicht. Der Staat hat kaum etwas zum Aufschwung beigetragen. Das geht in Ordnung, denn der Konsolidierung der Staatsfinanzen gebührt im Interesse der zukünftigen Generationen der Vorrang vor konjunkturellen Erwägungen.
Leider erfaßt der Aufschwung die Arbeitsmärkte kaum. Es wird schätzungsweise 200 000 Arbeitslose weniger als letztes Jahr geben; das ist bei insgesamt etwa vier Millionen nicht gerade viel. Die Beharrlichkeit der Arbeitslosigkeit über die Konjunkturzyklen hinweg zeigt, dass Deutschland nicht nur eine konjunkturelle Belebung braucht. Vielmehr werden strukturelle Reformen benötigt, die eine Ausschöpfung des vorhandenen Arbeitskräftepotenzials erlauben. Nur wenn es gelingt, den Arbeitsmarkt wieder in Schwung zu bringen, ist ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum, das über den Konjunkturzyklus hinausreicht, zu erwarten.
Der Staat kann hierzu nicht beitragen, indem er seinerseits mehr Nachfrage schafft, denn ein nachfrageinduziertes Strohfeuer kann die Arbeitslosigkeit nicht beseitigen. Das hat die Erfahrung in den Jahren nach der Wiedervereinigung ja sehr deutlich gezeigt. Wenn die deutsche Arbeitslosigkeit auf einen Nachfragemangel zurückzuführen wäre, dann hätte es beim größten keynesianischen Konjunkturprogramm aller Zeiten, das die Regierung Kohl im letzten Jahrzehnt mit ihrer schuldenfinanzierten Vereinigungspolitik aufgelegt hatte, ein wahres Beschäftigungswunder geben müssen. In Wahrheit stieg aber die Massenarbeitslosigkeit noch weiter an. Den geringen Anteil der Arbeitslosigkeit, der in Deutschland tatsächlich auf einen Nachfragemangel zurückzuführen ist, bringt der sich nun abzeichnende Konjukturaufschwung von alleine weg. Der Löwenanteil der strukturellen Arbeitslosigkeit wird bleiben. Insofern ist es auch verfehlt, von der Europäischen Zentralbank (EZB) zu verlangen, die vom Aufschwung selbst hervorgerufene Anspannung auf den Kapitalmärkten durch eine lockere Geldpolitik zu unterlaufen. Die europäische Geldmenge ist im Jahr 1999 ohnehin um 1,5 Prozentpunkte schneller gestiegen, als es geplant war. Mehr Gas muss EZB-Chef Wim Duisenberg nicht geben. Der sich derzeit abzeichnende Zinsanstieg ist eine selbstinduzierte Bremsreaktion der Geld- und Kapitalmärkte, die einen Aufschwung zu begleiten pflegt.
Dabei darf man nicht übersehen, dass es mittelfristig an der Zinsfront Probleme für Deutschland geben könnte. Im Vorfeld der Einführung des Euro ist es ja bis zum Ende des Jahres 1998 zu einer dramatischen Zinskonvergenz gekommen. Die Risikoprämien, die Italien, Portugal, Spanien, Irland, Finnland und andere, eher periphere Länder vor allem wegen der unsicheren Wechselkursentwicklung in ihren Zinsen hatten tragen müssen, sind nahezu vollständig verschwunden. Die internationalen Zinsdifferenzen lagen früher bei über 600 Basispunkten. Heute gibt es sie kaum noch.
Der Wegfall der Risikoprämien hat vielen europäischen Ländern die günstigen Finanzierungskonditionen beschert, die früher den Ländern der D-Mark-Zone vorbehalten waren. Auch impliziert er die Entwicklung neuer langfristiger Kreditmöglichkeiten, wie sie bislang nur in Deutschland bekannt waren. Als Folge ist mit einem größeren, lang anhaltenden Investitionsboom in den peripheren europäischen Ländern zu rechnen. Dieser Boom wird sich zwar nachfrageseitig auch auf die deutsche Wirtschaft übertragen, doch bedeutet er ebenso, dass die sich ergebende Finanzknappheit zu höheren Zinsen führen könnte, als sie Deutschland bislang gewohnt war. Dies ist eine strukturelle Entwicklung, gegen die sich die europäische Zentralbank, ohne Inflationsgefahren heraufzubeschwören, nicht stemmen kann, selbst wenn sie es wollte.
Die hohen Zinsen werden die Kostenkrise, in der die deutsche Wirtschaft nun schon länger steckt und die durch die hohen deutschen Arbeitskosten hervorgerufen wurde, verschärfen. Im Verarbeitenden Gewerbe hat Deutschland die höchsten Arbeitskosten pro Stunde auf der ganzen Welt. Nicht einmal die skandinavischen Länder oder Japan kommen an uns heran. Selbst in den neuen Bundesländern sind die Arbeitskosten höher als in Amerika oder Italien. Seit 1982, der letzten großen Weltrezession, sind die realen Lohnkosten pro Stunde in Deutschland um knapp 40 Prozent gestiegen, in den USA fielen sie leicht, und in Holland stiegen sie nicht einmal um halb so viel. Die Kostenkrise ist der wahre Grund der Arbeitslosigkeit.
Die deutschen Exportunternehmen haben sich in den letzten Jahren durch eine Rationalisierungsoffensive an die hohen Lohnkosten angepaßt und sind mittlerweile wieder wettbewerbsfahig. So gut dies aus betriebswirtschaftlicher Sicht ist, die Anpassung geschah in einer für die Volkswirtschaft völlig unnützen Weise, nämlich durch eine abermalige Zunahme der Massenarbeitslosigkeit. Es stimmt zwar, dass lohnbedingte Entlassungen zu privaten Produktivitätsgewinnen führen, die die Löhne für die Firmen erträglich machen, doch gehen solche Entlassungen mit einem gesamtwirtschaftlichen, auf alle Erwerbsfähigen bezogenen Produktivitätsverlust einher. Sie sind aus volkswirtschaftlicher Sicht nicht zu vertreten. Die Lohnzuwächse der Vergangenheit und der Zinsschub, den der Euro für Deutschland bringen kann, sind eine gefährliche Gemengelage, die ungeachtet der sich belebenden Nachfrage zu einer weiteren Verfestigung der strukturellen Arbeitslosigkeit in Deutschland führen kann. Dies sollten die Tarifpartner bei ihren Vereinbarungen beachten. Ein Bündnis für Arbeit, das die Lohnkosten durch die Einführung neuer Frühverrentungsmodelle eher noch steigert, spricht seinem Namen Hohn, denn es ist in Wahrheit ein Bündnis für Arbeitslosigkeit. Es ist das Gegenteil dessen, was die demographische Krise der Rentenversicherung verlangt, und eigentlich nur ökonomischer Unsinn, sonst gar nichts.
Damit die Arbeitslosigkeit verschwindet, muß die Kostenkrise der deutschen Wirtschaft überwunden werden. Dazu sind die folgende Schritte ratsam:
Erstens muss es den Betrieben erlaubt sein, selbst Tarifabschlüsse unterhalb der allgemeinen Tarifvereinbarungen zu treffen, wenn Arbeitgeher und Belegschaft dies wünschen. Der unerträgliche Paragraf 77 Absatz 3 des Betriebsverfassungsgesetzes, der besagt, dass Tarifverträge nicht durch Betriebsvereinbarungen ausgehebelt werden können, muss fallen. Zu viele Betriebe machen in Deutschland zu oder öffnen erst gar nicht, weil ihnen durch den Flächentarifvertrag die Chance genommen wird, rentabel zu arbeiten. Die Kostenkrise behindert nicht nur die Betriebe, die es gibt, sondern vor allem auch jene, die es nicht gibt. Arbeitsplätze fehlen, weil Betriebe fehlen, aber fehlende Betriebe haben keine Stimme im Konzert der politischen Meinungen. Das darf man nicht vergessen, wenn man die Tarifpartner zu diesem Thema hört.
Zweitens sollten Tarifverträge die Möglichkeit eröffnen, dass die Unternehmen ihren Belegschaften den Verzicht auf eine produktivitätsorientierte Lohnpolitik durch die Ausgabe von Beteilungstiteln in Form von Anteils- oder Genussrechten abkaufen. Sofern nur die existierende Belegschaft für die Lohnzurückhaltung kompensiert wird, wird der Weg zu einer faktischen Lohndifferenzierung zwischen Altsassen und neu Beschäftigten eröffnet, und neue Arbeitsplätze entstehen.
Drittens sollten die Gewerkschaften von der Politik der künstlichen Lohnnivellierung ablassen, weil dadurch eine exzessive Arbeitslosigkeit im Bereich der einfachen Arbeit induziert und eine neues Proletariat geschaffen wird. Gerade auch die einfache Arbeit ist in Deutschland zu teuer. Der Lohn muß wieder durch Angebot und Nachfrage auf den regionalen und sektoralen Teilmärkten des Arbeitsmarktes bestimmt werden. Für die Verteilungspolitik ist der Sozialstaat zuständig, nicht die Gewerkschaften.
Viertens ist die Anreizstruktur der Sozialhilfe zu verändern. Die deutsche Sozialhilfe ist eine Prämie für die Nichtbeschäftigung und wirkt wie eine absolute Lohnuntergrenze im Tarifsystem. Trotz ihres vergleichsweise geringen Finanzvolumens erklärt sie einen Großteil der Massenarbeitslosigkeit, weil sie zu hohe Mindestlöhne impliziert. Wenn der Staat statt der alten Sozialhilfe sein Geld vornehmlich zur Unterstützung derjenigen aufwendet, die eine niedrig bezahlte Arbeit annehmen, fallen die Löhne im Bereich der einfachen Arbeit, und neue Jobs entstehen. Gleichzeitig geht es den Betroffenen am unteren Ende der Einkommensskala nun besser, weil sie nicht entweder Lohn oder Sozialhilfe erhalten, sondern ihren Lohn und die Sozialhilfe. Ein voller Mitnahmeeffekt ist freilich die unerlässliche Voraussetzung für ein solch günstiges Ergebnis.
Fünftens ist die geplante Steuerreform um eine stärkere Senkung der persönlichen Einkommensteuer zu ergänzen. Wenn nicht nur der Unternehmensgewinn entlastet, sondern zusätzlich die Abgabenlast des Faktors Arbeit gesenkt wird, vermindert sich der Anreiz, schwarz zu arbeiten, und auf dem Wege über eine dann zumutbare Lohnmäßigung können neue Jobs entstehen.
Sechstens ist die Konsolidierung der Staatsfinanzen, das heißt die Rückführung des Budgetdefizits, konsequent weiter zu verfolgen. Allerdings darf dies nicht durch Einnahmeerhöhungen geschehen; vielmehr sind Ausgabensenkungen das Mittel der Wahl, insbesondere solche im nicht-investiven Bereich. Das Sparpaket war der richtige Anfang, doch bei den Subventionen könnte noch stärker gekürzt werden. Der Schwerpunkt der Staatsausgaben sollte in Richtung Infrastrukturinvestitionen und Förderung von Humankapital verschoben werden. Deutschland steht am Anfang einer langen Phase eines sich verschärfenden internationalen Wettbewerbs und ist dafür denkbar schlecht gerüstet ist. Manche der notwendigen Reformen wurden zwar jetzt in Angriff genommen, doch die Verkrustungen in der Sozial- und Arbeitsgesetzgebung bestehen weiter. Erst wenn sie aufgebrochen werden, wenn man den Markt agieren läßt und wenn man einen aktivierenden Sozialstaat errichtet, kann das Ziel der Vollbeschäftigung wieder erreicht werden. Erst dann gibt es eine Chance, die deutsche Kostenkrise zu überwinden und im internationalen Wettbewerb zu bestehen.