Das Flüchtlingsdrama

Autor/en
Hans-Werner Sinn
Project Syndicate, 29.09.2015

Armuts- und Kriegsflüchtlinge drängen derzeit zu hunderttausenden nach Europa. Noch werden sie großenteils willkommen geheißen, doch die Aufnahmeeinrichtungen stoßen an ihre Kapazitätsgrenzen. Um die Völkerwanderung über die Balkan-Route zu stoppen, beschloss zunächst Ungarn, die Grenzen zu kontrollieren. Dann folgten Deutschland, Österreich, die Slowakei, Slowenien, Kroatien, Tschechien, die Niederlande und Polen.

Deutschland ist das Hauptziel der Flüchtlinge. Bislang entfiel im Jahr 2015 die Hälfte aller Asylanträge in EU-Ländern auf Deutschland, obwohl Deutschland nur 16% der Bevölkerung der EU stellt. Bis zum September war Deutschland bei schätzungsweise 400.000 solcher Anträge oder vielleicht sogar mher angekommen, und wegen der dramatischen Beschleunigung der Migration seit dem Sommer rechnet man für das ganze Jahr mit 800.000 Anträgen. Zusätzlich könnten wieder wie schon im Jahre 2014 netto 400.000 normale Immigranten kommen. Das entspräche einem Wanderungssaldo von 1,5% der in Deutschland ansässigen Bevölkerung, was im historischen Vergleich ein extrem hoher Wert ist.

Dass die Asylsuchenden vor allem nach Deutschland kommen wollen, erklärt sich damit, dass Deutschland neben Schweden das liberalste Asylrecht in Europa hat und besonders hohe Mittel für die Unterbringung der Migranten aufwendet. Die Zuweisungen an die Gemeinden zur Kompensation der Unterbringungskosten liegen pro Person zwischen 1000 und 1200 Euro pro Monat. Die Leistungen, die die Migranten erhalten, liegen bei einem Mehrfachen des Arbeitslohns in den Herkunftsländern, so es dort überhaupt Arbeit gibt.

Das Schengen-Abkommen, nach dem das erste EU-Land, das die Asylsuchenden betreten, zur Registrierung der Asylsuchenden und der Behandlung ihrer Anträge verpflichtet ist, gilt schon lange nicht mehr. In Griechenland und Italien winkt man die Flüchtlinge einfach nur durch, und Deutschland holte freiwillig in riesigem Umfang nicht registrierte Flüchtlinge in Ungarn ab, um sie ostentativ willkommen zu heißen. Die Entscheidung hat freilich so viele zusätzliche Flüchtlinge aus den arabischen Ländern angelockt, dass Deutschland ihrer kam noch Herr wurde und sich nun ebenfalls gezwungen sah, Grenzkontrollen einzuführen.

Was die deutsche Regierung nicht bedacht hatte ist, dass jeder, der es schaffte nach Deutschland zu kommen, sofort per Handy die Nachricht in das Heimatland übermittelte, was neue Migrantenströme in Bewegung setzte. Die UN-Flüchtlingslager in Syrien verlagern sich auf diese Weise nach Deutschland.

Nur ein kleiner Teil der Asylsuchenden wird in Deutschland anerkannt, denn meistens handelt es sich nicht um politisch Verfolgte, sondern um Wirtschaftsflüchtlinge. Im ersten Halbjahr 2015 kamen nur etwa ein Viertel der Asylsuchenden aus dem Irak und Syrien, wovon wiederum ein erheblicher Anteil bereits Schutz in den dortigen UN-Lagern gefunden hatte, doch seither hat sich der Anteil der syrischen Flüchtlinge stark vergrößert, auch weil sich herumgesprochen hat, dass Deutschland die meisten syrischen Asylanträge anerkennt.

Werden Asylanträge anerkannt, haben die Asylbewerber das Recht, ihre Familienmitglieder nachziehen zu lassen. Häufig senden arabische Familien ihre halbwüchsigen Jungen nach Deutschland, in der nicht unberechtigten Hoffnung, dann selbst nachziehen zu dürfen. Deutschland wird sich noch über Jahre mit den Konsequenzen dieser Flüchtlingswelle zu beschäftigen haben.

Um die Last gleichmäßiger zu verteilen, versuchte Deutschland, eine europäische Quotenregelung für die Verteilung der Asylbewerber durchzusetzen. Aber das wurde als „moralischer Imperialismus“ von anderen EU-Ländern abgelehnt. So gelang es Deutschland nicht, in der EU ein Quotenverfahren zur eigenen Entlastung durchzusetzen. Man einigte sich statt dessen auf einem rasch anberaumten Gipfel nur für ein sehr begrenztes Quotenverfahren im Umfang von gerade mal 120.000 Personen, um Ungarn, Italien und Griechenland zu entlasten, was Deutschland weitere 31.000 Flüchtlinge bringt.

Nun wird Deutschland nichts anderes übrig bleiben, als ebenfalls restriktivere Maßnahmen zu ergreifen, um dem Chaos ein Ende zu bereiten. Zu den dringend notwendigen Schritten gehört vor allem eine schnelle Unterscheidung zwischen politisch Verfolgten und Wirtschaftsflüchtlingen möglichst noch an der Grenze. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge könnte Außenstellen an der Grenze eröffnen, um offenkundig unbegründete Asylanträge gleich dort zu erledigen und die Flüchtlinge gemäß den Regeln des Dublin-Abkommens in das letzte sichere Herkunftsland zurückzusenden. Vor allem aber sollte sich Deutschland anstrengen, den anerkannten Flüchtlingen so schnell wie möglich eine Schul- und Sprachausbildung zu gewähren und ihnen Arbeitsplätze zu verschaffen.

Nachzulesen auf www.project-syndicate.org