Eine Steuer für alle

Zum Binnenmarkt gehört die Harmonisierung der Steuersysteme. Sonst droht ein verzerrter Standortwettbewerb.
Autor/en
Hans-Werner Sinn
Wirtschaftswoche, Nr. 41, 06.10.1989, S. 213 - S. 217

Wenn am Neujahrsmorgen 1993 die Schlagbäume fallen, soll Europa zu neuer Blüte erwachen. Mehr Freizügigkeit im Kapital-, Waren- und Dienstleistungsverkehr wird, so steht zu hoffen, zu einer umfassenden Neuordnung der Produktionsstrukturen führen und starke Wachstumsimpulse auslösen, von denen alle Länder profitieren. Im vielbeachteten Cecchini-Bericht wird geschätzt, dass das reale  europäische Sozialprodukt nach Herstellung der Freizügigkeit Jahr für Jahr um vier bis sechs Prozent über dem Niveau liegen wird, das sonst erreicht worden wäre.

Damit dieses günstige Ergebnis tatsächlich zustande kommt, sollte die Neuordnung freilich nach dem Prinzip der komparativen Kostenvorteile und nicht nach dem Prinzip der komparativen Steuervorteile erfolgen. Es ist nicht sinnvoll, Europas Produktionsstätten in Irland und Luxemburg zu konzentrieren, bloß weil diese Länder mit niedrigen Steuersätzen locken, und es ist auch nicht sinnvoll, das Ergebnis eines Steuerwettbewerbs der Länder Europas abzuwarten. Was Europa braucht, ist eine weitgehende Harmonisierung der Steuersysteme.

Je nach Art der betrachteten ökonomischen Wahlentscheidungen ist die Sensibilität für Steuersatzdifferenzen sehr unterschiedlich ausgeprägt. Besonders flexibel reagieren der internationale Güterhandel und der Handel mit Finanzkapital. Ihnen folgen Direktinvestitionen und Standortentscheidungen der Unternehmen. Eine gewisse, aber begrenzte Flexibilität gibt es bei der persönlichen Wohnsitzwahl. Prinzipiell unflexibel ist nur die Allokation des Faktors Boden.

Der hohen Flexibilität des Güter- und Kapitalverkehrs hat die Politik bislang schon durch zwei besondere Schutzvorkehrungen im Steuerrecht Rechnung getragen, die steuersatzbedingte Allokationsverzerrungen verhindern sollen. Die eine Schutzvorkehrung besteht in dem sogenannten Bestimmungslandprinzip für die indirekte Besteuerung. Bei der wichtigsten indirekten Steuer, der Mehrwertsteuer, wird das Bestimmungslandprinzip derzeit durch den sogenannten Grenzausgleich erfüllt, der eine Steuerentlastung im Exportland und Steuerveranlagung im Importland nach den dort geltenden Sätzen bewirkt.

Der Grenzausgleich stellt sicher, dass ein internationaler Wettbewerb der Produzenten auf der Basis der Nettopreise (vor Steuern) erfolgt, und er verhindert, dass sich internationale Steuersatzunterschiede störend auf die Arbeitsteilung zwischen den Ländern auswirken können.

Die andere Schutzvorkehrung besteht in dem vom OECD-Musterabkommen von 1977 empfohlenen Wohnsitzlandprinzip für die Besteuerung von Zinserträgen.  Wo auch immer ein Kapitalanleger sein Geld investieren möchte, stets sind die Erträge im Wohnsitzland steuerpflichtig. Trotz hoher Steuersätze braucht ein Land im Idealfall keine Kapitalflucht zu erwarten, weil diese Steuersätze die Erträge auf In- und Auslandsanlagen in gleicher Weise treffen. Das Wohnsitzprinzip stellt sicher, daß internationale Kapitalwanderungen durch die Bruttozinssätze gesteuert werden und daß das Kapital trotz internationaler Steuersatzdifferenzen zum Ort seiner produktivsten Verwendung streben kann. Leider wirken beide Schutzvorkehrungen nur unvollkommen. Wie es um die faktische Schutzwirkung des Wohnlandprinzips bestellt ist, hat das unrühmliche Quellensteuerexperiment der Bundesrepublik Deutschland gezeigt. Wegen ihrer Abzugsfähigkeit hätte die Quellensteuer die Wirkungsweise des Wohnsitzlandprinzips eigentlich nicht behindern dürfen. Dass sie es dennoch tat und gewaltige Kapitalströme auslösen konnte, zeigt, daß mangelnde Steuerehrlichkeit in der Lage ist, das Wohnsitzlandprinzip zu durchlöchern. Sofern man sich in der Europäischen Gemeinschaft nicht durchringen kann, das Wohnsitzlandprinzip durch ein System von Kontrollmitteilungen - etwa nach amerikanischem Muster - zu stärken, wird sich eine effiziente Kapitalallokation nur bei harmonisierten Zinssteuertarifen erzielen lassen.

Eher noch skeptischer sind die zukünftigen Möglichkeiten einer Einhaltung des Bestimmungslandprinzips zu beurteilen. Wenn nämlich mangels Grenzkontrollen das bisherige System des Grenzausgleichs bei der Mehrwertsteuer nicht mehr praktiziert werden kann, wird es zu einem Run auf die Waren der Niedrigsteuerländer kommen. Zwar hat die EG-Kommission als Ersatz für den Grenzausgleich ein neues Ausgleichssystem entworfen, das für den Güterhandel zwischen Unternehmen befriedigend funktionieren könnte: es besteht einfach in der Ausdehnung des Vorsteuerabzugs auf im Ausland gekaufte Waren nebst einer zentralen Clearing-Stelle zur Kompensation der resultierenden Änderung der nationalen Steueraufkommen.

Doch dieses System ist machtlos bei Direktkäufen von Konsumenten und steuerbefreiten Institutionen, sei es durch briefliche Bestellungen, Einkaufsfahrten oder die Inanspruchnahme von Transportfirmen und Vermittlungsagenturen, die sicherlich nach 1992 wie Pilze aus dem Boden schießen werden. Die Detailmaßnahmen, die die Kommission zur Durchsetzung des Bestimmungslandprinzips bei Direktkäufen angeboten hat (zum Beispiel Sonderkontrollen der Versandhäuser) sind keine überzeugenden Lösungen des Problems.

Faktisch wird die Aufhebung der Grenzkontrollen in Europa einen großen Schritt vom Bestimmungsland- zum Ursprungslandprinzip bedeuten. Wettbewerb wird in Zukunft verstärkt auf der Basis von Brutto- statt von Nettopreisen stattfinden, und eine von unterschiedlichen Mehrwertsteuersätzen ausgehende Behinderung der internationalen Arbeitsteilung ist nicht mehr auszuschließen.

Aus Kiel hört man in steter Regelmäßigkeit die Behauptung, ein Ursprungslandprinzip bei der Mehrwertsteuer sei ökonomisch unbedeutend, weil sämtliche Wirkungen durch eine Aufwertung der Währung des Niedrigsteuerlandes kompensiert werden könnten. Diese Behauptung wäre richtig, wenn die Mehrwertsteuer eine allgemeine indirekte Steuer wäre, die alle Endprodukte gleichmäßig belastet. Das aber ist sie gerade nicht.

Selbst wenn man die vielen Detailausnahmen von einer vollen Steuerpflicht vernachlässigt, kann man nicht von dem fundamentalen Konstruktionsprinzip abstrahieren, daß die Mehrwertsteuer nur
Konsum-, nicht jedoch Investitionsgüter belastet.

Führt der nach Abschaffung der Grenzkontrollen zu erwartende Ansturm auf die Konsumgüter der Niedrigsteuerländer zu der von Kieler Ökonomen zu Recht erwarteten Währungsaufwertung, so verschlechtern sich die Marktchancen der Investitionsgüterproduzenten dieser Länder über kurz oder lang erheblich. Was die Mehrwertsteuer betrifft, ist Deutschland ein Niedrigsteuerland. Es muß deshalb mit einer Verschlechterung der Branchenstruktur zugunsten seiner Konsum- und zu Lasten seiner Investitionsgüterindustrien rechnen.

Die aus der Unvollkommenheit von Wohnsitz- und Bestimmungslandprinzip resultierenden Argumente für die Harmonisierung werden aus offenkundigem Grunde verstärkt, wenn die Flexibilität der unternehmerischcn Standortentscheidungen und die immerhin möglichen Auswirkungen auf die Wohnsitzentscheidungen privater Haushalte mitberücksichtigt werden. Hier werden langfristig Abwanderungen in Niedrigsteuerländer nicht ausbleiben. Weder Wohnsitz- noch Bestimmungslandprinzip bieten einen wirksamen Schutz. Man müßte schon eine Besteuerung nach einem Geburtsort- oder Nationalitätenprinzip einführen, um auf eine Steuerharmonisierung verzichten zu können - eine wenig praktikable Vorstellung.

Wenn Europa '93 ohne Steuerharmonisierung nicht wünschbar ist, so stellt sich freilich die Frage, wie diese Harmonisierung herbeigeführt werden sollte.

Kann man sich auf den Wettbewerb der Systeme, also auf autonome Entscheidungen der Einzelstaaten verlassen, oder bedarf es kollektiver Entscheidungen aller Staaten auf der Ebene der EG?

Die spontane Präferenz des liberalen Ökonomen ist sicher die Wettbewerbslösung. Wenn Abstimmungen mit den Füßen erfolgen, kann es sich kein Staat leisten, einem mobilen Produktionsfaktor mehr Steuern abzuverlangen, als dieser Faktor in Form öffentlicher Güter zurückerhält, und unter idealen Bedingungen werden die Staaten dann sogar bemüht sein, das Angebot an öffentlichen Gütern zu optimieren.

So vielversprechend dieses Ergebnis auf den ersten Blick erscheint, es hat Verteilungimplikationen, die die Euphorie für eine Wettbewerbslösung zumindest dämpfen sollten.

Eine unmittelbare Implikation besteht in der Konzentration der Besteuerung auf die Immobilien und daher wehrlosen Faktoren. Bodenbesitzer sollten besonders auf der Hut sein. Sie können ihr Vermögen nun einmal nicht nach Luxemburg schaffen und haben auch keine Möglichkeit, den Anschluß ihrer Parzellen an das Großherzogtum zu erklären. Sie sind das natürliche Opfer eines Steuerwettbewerbs.

Abgesehen von der verstärkten Belastung der Bodenbesitzer wird es kaum möglich sein, eine Umverteilungspolitik überhaupt noch vorzunehmen. Nettolasten kann man den Kapitalbesitzern und den Anbietern mobiler Arbeit nicht mehr aufbürden, und Nettovergünstigungen sind problematisch, weil sie Interessenten aus ganz Europa im Übermaß anlocken würden. Kein System der Sozialfürsorge könnte der Immigration der Armen auf Dauer widerstehen. Gegen den New-York-City-Effekt gäbe es auch in Europa keinen Schutz!

Wer staatliche Umverteilungspolitik als Gier des Leviathan interpretiert, wird am Untergang des Sozialstaates Gefallen finden. Aber Umverteilung ist mehr als Gier. Sie schafft sozialen Frieden und schützt vor einer Kriminalisierung von Randgruppen. Umverteilung ist auch Versicherungsschutz.

Jede Versicherung verlangt ex post eine Umverteilung zum Ausgleich von Glück und Pech, und fast jede Umverteilung kann ex ante als Versicherungsschutz interpretiert werden. Ist nicht der Zwanzigjährige, der noch nicht weiß, ob ihm das Schicksal hold sein wird, bereit, einen gut Teil der Umverteilungspolitik des Sozialstaates als Versicherungsschutz zu begrüßen? Steckt nicht letztlich auch der Versicherungsgedanke hinter dem Begriff "Solidarität", den die Sozialpolitiker aller Parteien so häufig in ihren Reden beschwören?

Die Antworten, die diese Fragen suggerieren, kann man nicht leichtfertig von der Hand weisen. Die Ablehnung der Umverteilung durch den erfolgreichen Fünfzigjährigen, für den die Würfel des Schicksals gefallen sind, ist jedenfalls kein gutes Argument gegen die Versicherungsinterpretation. Vielleicht ist diese Ablehnung ja nur der Versuch, den sozialen Kontrakt, dem man in seiner Jugend zugestimmt hatte, ex post zu negieren. Auch private Versicherungskunden würden es am Ende der Versicherungsperiode vorziehen,  ihre Prämien zurückzuerhalten, wenn klar ist, daß sie keinen Schaden erlitten haben.

Wenn die Versicherungsinterpretation der staatlichen Umverteilung einen wahren Kern hat, dann muß man aus einer zutiefst liberalen Staatsauffassung heraus den ungehemmten Wettbewerb der Steuersysteme ablehnen. Dieser Wettbewerb hätte nur Sinn, wenn sich die Standort und Wohnsitzwahl auf die Phase ex ante, also auf die Phase vor Kenntnis der späteren Lebensumstände, beschränken ließe.

Aber das würde eine unpraktikable und aus vielerlei Gründen unzumutbare Einschränkung der persönlichen Freizügigkeit bedeuten. Der Verzicht auf Umverteilungspolitik und der Untergang des Sozialstaates ist ein Ergebnis des Voting by feet, das die Väter Europas gewiß nicht gewollt haben und das auch ihre Enkel nicht wollen können.

Fazit: Ohne Harmonisierung würde die vollständige Offnung der innereuropäischen Grenzen eine Neuordnung der Produktionsstrukturen nach dem Prinzip der komparativen Steuervorteile und nicht nach dem Prinzip der komparativen Kostenvorteile bewirken. Wegen hoher direkter und niedriger indirekter Steuern müßte Deutschland mit Kapitalflucht und Standortverlagerungen ins Ausland rechnen und darüber hinaus eine Reorganisation der Produktionsstruktur zu Lasten seiner Investitionsgüterindustrien in Kauf nehmen.

Eine Harmonisierung kann zwar durch die unsichtbare Hand des Systemwettbewerbs bewirkt werden, aber sie wäre eine Harmonisierung nach unten. Nur eine auf EG-Ebene vereinbarte Harmonisierung kann das Europa der Vaterländer davor schützen, zu einem Europa der Nachtwächterstaaten zu degenerieren.