Vor zehn Jahren hat Gerhard Schröder mit seiner Agenda 2010 die impliziten Mindestlöhne des deutschen Sozialsystems gesenkt. Er hat die Arbeitslosenhilfe abgeschafft und es mehr als zwei Millionen Deutschen zugemutet, stattdessen mit der Sozialhilfe vorlieb zu nehmen, die er Arbeitslosengeld II nannte und um einen Lohnzuschuss in Form von Hinzuverdienstmöglichkeiten ergänzte, den Kritiker fälschlicherweise als "Aufstockung" bezeichnen. Indem er weniger Geld fürs Wegbleiben und mehr fürs Mitmachen gab, hat er die Mindestlohnansprüche der Betroffenen gesenkt. Das hat die Lohnskala nach unten hin ausgespreizt, im Niedriglohnbereich viele neue Stellen geschaffen und die Langzeitarbeitslosigkeit reduziert.
EIN JOBWUNDER
Deutschland, der allseits bemitleidete OECD-Weltmeister bei der Arbeitslosigkeit der gering Qualifizierten, hatte sich zu einer substanziellen Arbeitsmarktreform aufgerafft, die mithalf, ein Jobwunder hervorzubringen, um das wir heute von unseren Nachbarn beneidet werden. Die Arbeitslosigkeit ging von zwölf Prozent im Jahr 2005 auf nur noch etwa sieben Prozent in diesem Jahr zurück. Auf der Basis der heutigen Erwerbspersonen gerechnet, entspricht das einem Rückgang der Arbeitslosenzahl um 2,2 Millionen. Interessanterweise sind das genauso viele Menschen, wie seinerzeit durch die Agenda von der Arbeitslosenhilfe auf die Sozialhilfe herabgestuft wurden.
Die Agenda bedeutete zugleich eine erhebliche Entlastung der Sozialsysteme, denn trotz der Lohnzuschüsse sparte der Staat viel Geld, weil er weniger Arbeitslose finanzieren musste. Der Anteil der Ausgaben für Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger am BIP ging in der Zeit von 2005 bis 2012 von 3,7 Prozent auf 2,4 Prozent zurück. Das entspricht auf der Basis des heutigen BIPs einer Entlastung des Staates um 35 Milliarden Euro pro Jahr.
Besonders bemerkenswert ist, dass die Ungleichheit nicht zunahm, denn es erwies sich für viele Arbeitnehmer als besser, einen schlecht bezahlten Job zu haben, der durch das Arbeitslosengeld II aufgebessert wurde, als keinen Job - ganz abgesehen vom Schutz vor sozialer Ausgrenzung durch Arbeitslosigkeit, der den Betroffenen zusätzlich zugutekam. Nach einer Dokumentation der in dieser Hinsicht unverdächtigen Hans-Böckler-Stiftung fiel der Gini-Koeffizient, der die Ungleichheit der deutschen Einkommensverteilung (nach Steuern und Transfers) misst, sogar von 29 Prozent im Jahr 2005 auf 28 Prozent im Jahr 2010. Schröder verlor über der Reform seinen Posten, aber Deutschland gewann den sozialen Frieden.
Das Erreichte steht bei den anstehenden Koalitionsverhandlungen nun auf dem Spiel. Ob CDU und CSU mit den Grünen oder der SPD koalieren: Beide Parteien haben einen gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro gefordert und werden schwerlich davon abzubringen sein. Ein solcher Mindestlohn wird das Rad der Geschichte wieder in die Zeit vor Schröder zurückdrehen, denn er wird erhebliche Lohnerhöhungen erzwingen. Immerhin beziehen im Westen circa 15 Prozent und im Osten circa 27 Prozent der Arbeitnehmer, insgesamt etwa sechs Millionen Menschen, einen Lohn, der niedriger ist. Was passieren wird, ist das Gegenteil dessen, was schon passiert ist. Die Lohnskala wird wieder von unten her hochgestaucht, die Arbeitslosigkeit der gering Qualifizierten nimmt wieder zu, die Langzeitarbeitslosigkeit wird erneut zum Thema, und die Sozialsysteme werden wieder teurer. Der soziale Frieden wird gefährdet, weil sich die Einkommensverteilung nicht verbessert, jedoch wieder mehr Menschen aus dem Arbeitsprozess ausgegrenzt werden. Der Jubel der ökonomischen Laienprediger für den Mindestlohn wird nach wenigen Jahren einer bitteren Ernüchterung weichen.
Der Hauptgrund dafür, dass die Effekte dramatisch sein werden, liegt im Euro-Verbund. Die Lohnerhöhung am unteren Ende der Lohnskala wird nämlich Kettenwirkungen haben, die weit über das hinausgehen, was ökonometrische Studien in England oder den USA, die beide über eigene Währungen mit einem flexiblen Außenwert verfügen, zeigen können. Ein Teil der Lohnerhöhung der Geringverdiener wird sich wegen der Trägheit der Lohnabstände in den mittleren Lohnbereich und damit auch in das Preisniveau der deutschen Güter übertragen. Dadurch kommt es zu einer realen Aufwertung Deutschlands gegenüber den Euro-Partnern, die die Vorteile der realen Abwertung im Euro-Verbund, von der Deutschlands Arbeitsmarkt profitiert hat, wieder zunichtemacht.
NICHT KAUFEN
Man könnte meinen, das sei genau das Richtige, um Griechenland und Co. wieder wettbewerbsfähig zu machen. Indes brauchen diese Länder eine deutsche Nachfrageinflation, wie sie sich wegen der Umlenkung der Kapitalströme nach Ausbruch der Finanzkrise in Form des deutschen Baubooms auch schon zeigte. Was sie nicht brauchen, ist die Stagflation, die durch den gesetzlichen Mindestlohn erzeugt wird. Wenn Deutschland die Produkte Südeuropas nicht kaufen kann, weil es durch einen politisch verordneten Kostendruck in eine neue Flaute kommt, hilft das niemandem.