Die größte Überraschung beim Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) liegt nicht in der Absenkung der deutschen Haftung von 640 Milliarden Euro auf 190 Milliarden Euro und der Aufhebung der Schweigepflicht des deutschen Gouverneursvertreters, die Deutschland durch eine völkerrechtliche Erklärung absichern muss. Der größte Erfolg der Kläger ist die Stellungnahme des Gerichts zur Europäischen Zentralbank (EZB). Obwohl die Richter für die Details auf das Hauptsacheverfahren verweisen, ist das, was sie jetzt angedeutet haben, ein Paukenschlag.
Das Verfassungsgericht hat in aller Härte und Deutlichkeit die Banklizenz des ESM gekippt. Im ESM-Vertrag (Artikel 32, Absatz 9) heißt es ja: "Der ESM ist von jeglicher Zulassungs- oder Lizenzierungspflicht, die nach dem Recht eines ESM-Mitglieds für Kreditinstitute ... gilt, befreit." Der ESM hatte also im Grunde schon eine Banklizenz, und manch eine Regierung der Euro-Länder hoffte deswegen, durch die Kombination von ESM- und EZB-Hilfen unter Zuhilfenahme der Notenpresse das ganz große Rettungsrad drehen zu können.
KEINE EZB-KREDITE
Konkret ging man bislang davon aus, dass der ESM die auf dem Markt erworbenen Staatspapiere der Krisenländer bei der Zentralbank als Pfänder für den Bezug von Refinanzierungskrediten hätte einreichen können - so wie es auch private Geschäftsbanken tun. Auf diese Weise hätte man es sich erspart, mit höheren Zinsen um die Gunst der Käufer von ESM-Anleihen werben zu müssen.
Der Gefahr, dass die Bundesregierung diesem allzu durchsichtigen Kalkül eines Tages folgen könnte, hat das Bundesverfassungsgericht nun vorgebeugt. Es vertritt die Auffassung, dass der ESM wegen des Verbots der monetären Staatsfinanzierung im EU-Vertrag kein Kapital bei der EZB aufnehmen darf, und zwar weder allein noch in Verbindung mit der Hinterlegung von Staatsanleihen. Zudem erklärten die Richter, dass der ESM sich auch keinen Kredit durch Hinterlegung von Staatsanleihen bei der EZB besorgen dürfe - wobei es keine Rolle spiele, ob der ESM diese Staatspapiere direkt von den Staaten oder auf dem Sekundärmarkt erworben habe.
Es ist allerdings zweifelhaft, dass die Juristen der anderen Euro-Länder diese Auffassung des Verfassungsgerichts teilen. Daher ist es wichtig, dass der Deutsche Bundestag sie der völkerrechtlich gültigen Erklärung beifügt, die nun vorbereitet werden muss, auch wenn das Gericht das nicht verlangt hat. Damit könnte das Parlament der schon absehbaren Argumentation vorbeugen, der ESM werde das Verbot der monetären Staatsfinanzierung beachten und den Refinanzierungskredit der EZB nur für die Schuld- papiere der Banken in Anspruch nehmen, die er im Zuge der direkten Bankenfinanzierung erwerben soll. Das Recht zu einer solchen direkten Bankenfinanzierung soll der ESM ja nach den Beschlüssen des EU-Gipfels vom 29. Juni 2012 erhalten. Ohne eine solche Erweiterung der Erklärung behielte der ESM eine offene Flanke, die dem Missbrauch Tür und Tor öffnen würde.
Die zweite Implikation für die EZB-Politik liegt in dem, was das Verfassungsgericht in Paragraf 278 seiner Urteilsbegründung sagt. Dort heißt es: "Ein Erwerb von Staatspapieren auf dem Sekundärmarkt durch die Europäische Zentralbank, der auf von den Kapitalmärkten unabhängige Finanzierung der Haushalte der Mitgliedstaaten zielte, ist als Umgehung des Verbots monetärer Haushaltsfinanzierung... untersagt."
Dieser Satz muss auf den Frankfurter Fluren der EZB Sorgen auslösen. Denn mit ihm machen die Richter amtlich, was Bundesbank-Präsident Jens Weidmann seit Monaten mit Nachdruck verkündet. Die Staatspapierkäufe der Notenbank sind vermutlich vertragswidrig, weil sie das Verbot der Staatsfinanzierung durch die EZB umgehen.
SCHLUPFLOCH BLEIBT
Das einzige Schlupfloch, das die Formulierung des Bundesverfassungsgerichts noch offen lässt, liegt in der Konditionierung des Verbots auf die Ziele, die die EZB mit ihren Anleihekäufen verfolgt. Man wird nie in der Lage sein, zwischen den wahren und vorgeschobenen Zielen zu unterscheiden. Daher liegt hier eine gewisse Gefahr, dass sich das Unionsrecht und die Auffassung des Bundesverfassungsgerichts unterlaufen lassen. Wir werden bis zum Hauptsacheverfahren warten müssen, um festzustellen, welche objektiven Maßstäbe das Gericht hierzu aufstellt.
Die EZB wird nun sicherlich sofort versuchen, ihre Sprachregelung so zu ändern, dass ihr ein Motiv von der Art, wie es das Gericht beschreibt, nicht mehr unterstellt werden kann. Ob das gelingt, steht freilich in den Sternen. Denn zu häufig und zu intensiv hat die EZB die Zinsentlastung der Krisenländer in der Vergangenheit in den Vordergrund gestellt.
Man fragt sich, um was es denn sonst bei den Aufkaufprogrammen gehen sollte - als darum, die Finanzierung der Krisenstaaten von den Kapitalmärkten unabhängig zu machen.
»Die Staatspapierkäufe der EZB sind vermutlich vertragswidrig «