Der Hausherr kommt auf halbem Weg zum Gartentor entgegen. „Guten Morgen." Ein freundlicher Blick, ein kräftiger Händedruck. Ist er's wirklich? Der Star-Ökonom, der im Fernsehen Anzug mit Weste trägt? An diesem sonnigen Vormittag steckt er in kariertem Hemd, abgetragener Hose und Schuhen ohne Schnürsenkel. Nur der Käpt'n-Ahab-Bart bestätigt verlässlich: Ja, das ist Hans-Werner Sinn. Er sagt: „Heute ist mein Hausarbeitstag."
2009 - das ist das Jahr der Krise. Und der Ökonomen. In der Rezession ist ihr Rat besonders gefragt. Niemand mischt in den Debatten eifriger mit als der Chef des Münchner Ifo-Instituts, der an der Isar auch einen Lehrstuhl an der Ludwig-Maximilians-Universität innehat. Er gilt manchen als eitler Wichtigtuer, anderen als einer der klügsten Köpfe Deutschlands. Sinn ist die Reizfigur der Zunft.
Spätestens seit 2003 steht er im Ruf eines Mr. Gnadenlos. Damals veröffentlichte er seinen Bestseller „Ist Deutschland noch zu retten?" und führte die Schwäche des Standorts D auf zu hohe Löhne und Steuern zurück. Die Anwürfe gegen Sinn, gern anonym im Internet, gehen bis hin zu Morddrohungen. Der Herr Professor, meint der Boulevard, könne leicht fordern, Arbeitereinkommen zu drücken, er, der selbst in Saus und Braus lebe.
Natürlich residiert Sinn großzügig. Aber das Grundstück liegt nicht in einem Reichenviertel, sondern in einer Familienwohngegend eines Münchner Vororts. Dort steht keine Villa, sondern ein etwa 30 Jahre altes Haus mit braun-weißen Fensterläden und recht biederem Interieur.
Auf der Terrasse holt Sinn an diesem Vormittag Sitzpolster aus einer Kiste und stellt Gläser auf den Tisch. Eines hat am Rand eine Macke. Ihn stört das nicht. „Ich bin eher knausrig", meint Sinn und nippt an seinem Wasser. „Wenn ein Essen teuer ist, schmeckt es mir schon nicht." Konsum macht ihn nicht glücklich. Er sagt: „Ich bin ein Reparierer." Und: „Unser Geld verwaltet meine Frau." Leuchtende Augen bekommt Sinn, wenn er im Arbeitszimmer „Wirtschaft und Gesellschaft" aus dem Regal nimmt, das Hauptwerk des Soziologen Max Weber. Oder ein ins Englische übersetztes eigenes Werk.
Im Wohnzimmer deutet er auf ein unauffälliges Bild über der Couch, das auf den zweiten Blick ein Haus zeigt. „Das hat mir mal ein Fahrgast geschenkt, der Maler war. Als Dank für eine Zigarette", erzählt Sinn. Sein Vater hatte einen kleinen Taxibetrieb, in dem er aushelfen musste. Etwa 20 war der gebürtige Westfale damals.
Auch der nächsten Generation soll nicht alles in den Schoß fallen. „Wenn man zu großzügig ist, verdirbt das den Charakter", glaubt Sinn. Seine drei Kinder, die heute um die 30 Jahre alt sind, mussten sich stets etwas hinzuverdienen. Sieht der Ökonom Taschengeld also als eine Art „aktivierende Sozialhilfe"? Das ist ein Sinn-Begriff, der sogenannte Verlierer in der Gesellschaft gegen ihn aufbringt. Er bedeutet, dass der Geldbetrag, den es ohne Gegenleistung vom Staat gibt, spürbar niedriger ausfallen muss als ein Arbeitseinkommen. So spürbar, dass er einen Anreiz zum Arbeiten darstellt. Und nicht zum Nichtarbeiten.
Seine ökonomischen Grundsätze ins Familienleben hineinzuinterpretieren sei völlig verkehrt, sagt Sinn. Kinder, meint er und klingt nun fast milde, mussten daheim vor allem Liebe und Geborgenheit erfahren. Leistungsdruck gebe es in der Schule zur Genüge.
Der Mann mit den im TV nie bemerkten Lachfalten ist mehr als der Rambo-Ökonom, als der er gilt. Jedes Ideologisieren ist ihm zuwider, das hat er seit der 68er-Zeit über. Politikern fühlt er sich deshalb überlegen. Sinn nimmt für sich in Anspruch, allein auf Faktenbasis zu forschen und zu argumentieren. Mal käme er eben zu Erkenntnissen, die dem rechten Politspektrum zuzuordnen seien. Und mal dem linken. „Ich gehöre keiner Partei an und will unabhängig sein", sagt Sinn. Man muss das auch so verstehen: Ob CDU, SPD oder andere - kein Lager ist vor ihm sicher.
1991 schrieb er mit seiner Frau Gerlinde „Kaltstart", eine Abrechnung mit der Wiedervereinigungspolitik von Helmut Kohl. „ Heute ist es Allgemeingut, dass das ein wirtschaftliches Fiasko war", beachtet Sinn und legt zufrieden den Arm auf die Lehne der Gartenbank. Damals bedeutete man ihm, das Werk könne der Karriere schaden. Das stachelte ihn erst recht an, in den Ökonomen-Olymp aufzusteigen. Und seine Meinung noch lauter kundzutun.
Das erste Kapitel der Standort-Schelte „Ist Deutschland noch zu retten?" widmet er „ Franz Müntefering, der glaubt, Deutschland wachse nur deshalb so langsam, weil wir schon da sind, wo die anderen erst noch hin wollen". In „Kasino-Kapitalismus", seinem jüngsten Buch, rechnet Sinn mit dem Hochrisikokurs der Banken ab. Er attackiert Bosse, Aktionäre und Analysten für ihre Gier und das Ziel von 25 Prozent Eigenkapitalrendite.
Sein Schreibstil erinnert eher an Boulevard als an Fachliteratur. Es seien die Jahre im Taxi gewesen, in denen er gelernt habe, sich klar auszudrücken, sagt der Professor. „Die Rente kommt vom Staat, und der Strom kommt aus der Steckdose" ist ein typischer Sinn-Spruch. Es ist diese prägnant-provokative Art, die ihn aus der Zunft der oft drögen Volkswirte heraushebt. Kein Kollege präsentiert sich zudem so bereitwillig. Sinn sitzt bei Anne Will, plaudert mit Frank Plasberg, diskutiert mit Maybrit Illner.
Weshalb sendet Sinn auf allen Kanälen? Weshalb legt er sich so gern mit allen an? Es gibt da diesen einen kurzen Wortwechsel, der schon einige Zeit zurückliegt. Sinn erzählte einmal, dass er als Konfirmand eigentlich Missionar habe werden wollen. Da erwiderte seine Frau: „Das bist du doch geworden. " Der Professor, der an diesem Morgen auf seiner Terrasse ohnehin oft lächelt, lacht.
Sinn ist auf einer Mission: uns zur ökonomischen Vernunft zu bekehren. Er, der im Verdacht steht, ein Schinder der Schwachen zu sein, sieht sich als Weltverbesserer. Als jemand, der dazu beiträgt, die ökonomischen Regeln so zu setzen, dass daraus für die Deutschen ein möglichst hoher Lebensstandard resultiert. Ist er, der in der Freizeit so gern gärtnert, der Heger und Pfleger unserer Volkswirtschaft?
Was verbindet einen Gärtner mit einem Ökonomen, Herr Sinn? Er überlegt kurz. Ein Gärtner gebe Pflanzen einen Rahmen vor, innerhalb dessen sie sich frei entfalten können. Bei Wildwuchs greife er ein. „ Das klingt doch stark nach sozialer Marktwirtschaft", sagt Sinn.
Der Fotograf möchte ihn im Grünen ablichten, mit einer kleinen Gartenschere. Sinn verschwindet, bleibt lange weg. Dann ein Dröhnen und ein Ruf: „Kommen Sie bitte mal herüber?" Der Hausherr steht auf einer Leiter, schwingt einen elektrischen Heckenstutzer in XXL und rasiert damit Geäst. Dem rechten Schienbein kommt er gefährlich nahe. „Das Kabel habe ich schon mal erwischt", plaudert der Mann fürs Grobe.
Sinn geht stets in die Vollen. Sein Einsatz schlage sich in der Politik schon nieder, meint er. In den Hartz-IV-Gesetzen etwa. Und doch ist er ernüchtert, wie wenig ankommt. Das liege auch an den neuen Medien: „Im Internet steht ein Thema 30 Minuten oben und ist dann wieder weg. Was wollen Sie da transportieren?" Wenn er und andere Ökonomen im Fernsehen mehr Sendezeit bekämen, sagt Sinn, würde sich die Republik verändern. Sie müssten ihre Argumente nur ausführlich darlegen können, dann würden viele Bürger ihnen folgen.
Es kommt auch vor, dass Sinn diese Aussage im Singular macht: Dass er das Land mit eineinhalb Stunden Aufklärungs-TV voranbringen könnte. Kollegen legen dies als Hybris aus. Sinn selbst sagt, er habe auch mit 61 das Vertrauen auf die Einsichtsfähigkeit der Menschen nicht verloren. Das sei es, was ihn antreibe.
Ach ließe sich Deutschlands Ökonomie doch so schön ordnen wie der heimische Garten.