München (dapd). Der Bart könnte bald ab sein. Andere Alt-68er haben sich im Laufe ihrer Karriere glatt rasiert - Hans-Werner Sinn hat sich das Relikt aus rebellischen Studententagen bewahrt und zu seinem unverwechselbaren Markenzeichen gemacht. Aber in zwei Jahren wird der streitbare Professor 65. "Vielleicht schneide ich ihn dann ab, damit mich keiner mehr erkennt", sagt Deutschlands bekanntester Wirtschaftsforscher augenzwinkernd.
Privat unterwegs ständig erkannt und angestarrt zu werden, "das ist wirklich nicht angenehm". Als Präsident des ifo-Instituts dagegen kann Sinn gar nicht genug im Rampenlicht stehen. Er hält Vorträge und gibt Interviews am laufenden Band, ist Dauergast in Talkshows. Forschungsergebnisse in die politische und öffentliche Debatte einzubringen, Anstöße zu geben, das ist seine Aufgabe. Und die erfüllt er mit Leidenschaft. Dabei scheut er keine Kontroverse. Wenn er seiner Frau Gerlinde seine Textentwürfe gibt, "sind ihr manchmal bestimmte Formulierungen zu scharf", sagt Sinn. "Und weil ich das weiß, gebe ich ihr manche Texte nicht", sagt er - und lacht.
Seine Sache auf offener Bühne zu verfechten, macht ihm sichtlich Spaß. "Natürlich! Forschung im luftleeren Raum lohnt sich ja nicht", sagt er. Um die Welt zu verbessern, will er gehört werden. "Früher war ich ganz schüchtern", sagt Sinn. "Bei meiner ersten Vorlesung habe ich mir fast in die Hosen gemacht." Doch in bald 40 Jahren auf dem Podium, "da lernt man das".
Schweißgebadet aufgewacht
Er spiele kein Musikinstrument, sagt er und erinnert sich an einen Albtraum: "Ich habe behauptet, ich könnte Geige spielen, und dann musste ich plötzlich auf die Bühne. Da bin ich schweißgebadet aufgewacht." Der Nobelpreisträger Robert Solow kennt diese Furcht: "Immer wenn Hans-Werners kritisches Auge mich beobachtet, habe ich Angst, dass ich etwas Falsches sage", erklärte er einmal. Und lobte seinen Kollegen: "Es ist einfach erstaunlich, was er in ein paar Jahren nur geleistet hat. Er hat München zu einem der Weltzentren für Wirtschaftsforschung gemacht, das CES-ifo-Institut aus Bruchstücken zusammengebastelt und ein internationales Netzwerk ersten Ranges aufgebaut."
Aufgewachsen ist Hans-Werner Sinn in einem Dorf in Westfalen, von dessen Traditionen und Fachwerkbauten er noch heute schwärmt. Sein Vater war Taxifahrer im benachbarten Bielefeld. Schon als 14-Jähriger musste er dort in der Taxizentrale Telefondienst machen. "Am Sonntag früh im Dunkeln mit dem Fahrrad von Brake nach Bielefeld zu fahren, um dort um sechs Uhr auf der Matte zu stehen, das war nicht angenehm", erinnert er sich. In Brake gab es zwei Jugendvereine: Den Christlichen Verein Junger Männer (CVJM) und die Sozialistische Jugend Die Falken. Sinn war Mitglied in beiden und wie sein Vater auch in der SPD. "Aber als ich in Münster studiert habe, habe ich das aufgegeben."
Als Konfirmand wollte er wie Albert Schweitzer als Missionar in den Urwald. Biologie war sein Lieblingsfach. "Gen- und Evolutionsforschung hat mich fasziniert. Ich habe alle Bücher dazu verschlungen, die ich bekommen konnte", sagt er. "Ich hätte gern Biologie studiert." Aber Lehrer werden wollte er keinesfalls. "Ich wusste nicht recht, was ich machen sollte. Da hab ich aus Verlegenheit Volkswirtschaftslehre studiert." "Das hatte mit Politik und Geld zu tun, und spannend schien es mir auch zu sein." 1967 schrieb er sich im nahen Münster an der Uni ein.
Damals hätte Hans-Werner Sinn auch Gewerkschafter werden können. "Als das Studium zu Ende ging, habe ich mich sogar beim Deutschen Gewerkschaftsbund beworben, bei einem Forschungsinstitut in Nordrhein-Westfalen." Aber er erhielt eine Absage. So machte Sinn an der Hochschule Karriere.
"Im Alter braucht alles mehr Zeit"
Mit 23 Jahren heiratet er seine Mitstudentin Gerlinde. Mit 33 hat er drei Kinder und ist nach einer glänzenden Habilitation und Stationen in Münster, Mannheim, Ontario und wieder Mannheim Professor in München. "Als junger Mensch hat man viel mehr Energie, da konnte ich 15 Stunden am Stück schreiben." Er habe Nächte durchgearbeitet, ohne Urlaub und freie Wochenenden. "Im Alter braucht alles mehr Zeit", sagt Sinn. Seine Bücher schreibt er im Sommerurlaub, aber da "mache ich schon Mittagschlaf, da lege ich mich eine Stunde hin".
In München ist Sinn sesshaft geworden. "Ich fühl mich hier sehr wohl." Er hätte nach Gießen oder Bern gehen können, ans Max-Planck-Institut, zum Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung oder ans Hamburger Weltwirtschafts-Archiv. "Ich bin dann doch immer hiergeblieben, weil die Münchner mich sehr nett behandelt haben", sagt Sinn. Vor 20 Jahren spendierte ihm die Uni sein eigenes Institut: das CES. Damit baute er ein Netzwerk von Gastprofessuren auf, bei dem heute 700 Forscher aus aller Welt mitmachen.
Mit seiner Frau Gerlinde zusammen schrieb er damals ein Buch, das wissenschaftlich Furore machte und zugleich ein Bestseller wurde: "Kaltstart". Als erster Volkswirt zerpflückte er die Fehler bei der Wiedervereinigung und machte Vorschläge, wie es besser laufen könnte. 1999 musste Sinn dann das heruntergewirtschaftete ifo-Institut retten. Die Leibniz-Gemeinschaft hatte es herabgestuft, der Staat die Zuschüsse gekürzt. "Man hat mich da teils hineingeschubst, teils hineingezogen", sagt Sinn. "Aber ich bereue es ganz und gar nicht." Heute bescheinigt ihm die Leibniz-Gemeinschaft, dass er das ifo-Institut zu einer "europäischen Denkfabrik" gemacht habe - Forschung und Politikberatung seien "hervorragend".
"Beim Euro war ich zu naiv"
Seinen größten politischen Einfluss hatte Sinn unter Kanzler Gerhard Schröder. Riester-Rente und Hartz IV hat er vorbereitet. Der Wissenschaftliche Beirat hatte unter Federführung Sinns ein Gutachten über eine kapitalgedeckte Altersvorsorge erarbeitet. Arbeitsminister Norbert Blüm "wollte nichts davon wissen", Nachfolger Walter Riester schon. "Das war schon ein schöner Erfolg", sagt Sinn. 2002 legte das ifo-Institut eine Studie über "aktivierende Sozialhilfe" vor: Weil hohe Löhne für einfache Arbeiten in Deutschland nach der EU-Erweiterung in die Massenarbeitslosigkeit führten, schlug Sinn vor, Niedriglöhne mit staatlichen Zuschüssen aufzustocken. "Das haben mir die Gewerkschaften übel genommen", sagt er. Als Neoliberaler und "Professor Unsinn" wurde er zum Lieblingsfeind der Linken. "Aber die Agenda war richtig, wir hatten dadurch eine Million Arbeitslose weniger."
Auf die Frage nach Irrtümern überlegt Sinn. Dann sagt er: "In den 70er- und 80er-Jahren war ich noch nicht bereit, die wachsende Arbeitslosigkeit als Ergebnis einer aus dem Ruder geratenen Lohnpolitik zu akzeptieren." Und auch später "beim Euro war ich zu naiv und habe geglaubt, dass die Schuldengrenzen eingehalten werden". Aus Erfahrung sei er heute nüchterner.
Sinn arbeitet gerne im Garten. Früher hat er auch noch gefilmt. Zu Hause haben sich unbearbeitete Filmrollen und Videokassetten angesammelt. "Das wartet alles auf meine Pensionierung", sagt er. Aber es dürfte anders kommen. "Am meisten Spaß macht mir das Forschen", sagt Sinn. "Wenn ich über meine Zeit frei verfügen könnte, würde ich am liebsten nur forschen und Bücher schreiben." dapd/ro/mel /4