Eines steht heute schon fest: Hans-Werner Sinn wird seiner Nachwelt ein interessantes wissenschaftliches Erbe hinterlassen. Der Ökonom besitzt noch einen reichen Fundus von Arbeiten, die ihm aus dem einen oder anderen Grund nicht perfekt zu sein scheinen: Aufsätze und Modellrechnungen, denen der letzte Schliff oder der endgültige Lösungsschritt fehlt. Nie würde er sie so veröffentlichen. Er wartet lieber auf die zündende Idee, den treffenden Gedanken, der das Werk zu einem makellosen Abschluß bringt. Da ist Sinn geduldig: "Manche Dinge müssen eben zehn Jahre reifen."
Sorgfalt und Ehrgeiz haben den Münchner Wirtschaftswissenschaftler weit gebracht. Er war kaum vierzig, da richtete ihm die Ludwig-Maximilians-Universität bereits ein eigenes Forschungsinstitut ein - um zu verhindern, daß Sinn einem Ruf nach Bern folgte. Seitdem ist er nicht nur Professor für Volkswirtschaftslehre an der Münchner Universität, sondern trägt zudem den klangvollen Titel "Director of the Center for Economic Studies".
Auch die Politik hat Sinn schon früh als Ratgeber geschätzt. Seit 1989 gehört er dem wissenschaftlichen Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium an, und er war Vorsitzender der Expertenkommission Wohnungspolitik der Bundesregierung, die vor zwei Jahren ein Gutachten zur Reform der Wohnungsbauförderung vorlegte. Keine Frage, für Sinn sind solche Ämter wichtig. Er will beeinflussen und verändern, und das kann er nur, wenn er Autorität und Aktionsfelder besitzt. "Es reicht mir nicht, im stillen Kämmerlein Erkenntnisse zu gewinnen", sagt er, "ich bin ein Weltverbesserer." Aber keiner von der allzu idealistischen Sorte. Von seinem Lehrmeister in Münster, dem Finanzwissenschaftler Herbert Timm, hat er gelernt, daß wirtschaftspolitische Forderungen einer exakten theoretischen Fundierung bedürfen. Daran hat er sich gehalten, auch wenn es, wie er mit einem Seufzer sagt, oft "ein großer Schritt von der verbalen Diskussion bis zum mathematischen Nachweis ist".
In dieser Hinsicht kann Sinn freilich sehr hartnäckig sein. Schon während seines Studiums in Münster hat er sich zum Beispiel mit der Frage beschäftigt, wie sich die Besteuerung von Kapitaleinkommen auf das Wirtschaftswachstum auswirkt. Mangels geeigneter Methoden blieb die Antwort unbefriedigend. Doch Sinn ließ nicht locker. Jahre später, nach seinem Wechsel an die Universität Mannheim, entwickelte er in seiner Habilitationsschrift ein intertemporales Gleichgewichtsmodell, das eine umfassende Analyse der Besteuerungswirkungen ermöglichte. "Ein nützliches Werkzeug", sagt Sinn selbstbewußt, "ich werde damit noch heute oft zitiert."
Mit Steuerpolitik und Steuerwirkungen hat Sinn sich im Laufe der Jahre immer wieder befaßt. Doch ebenso hat er, meist aus aktuellem Anlaß, ganz andere Themen aufgegriffen: In seiner Publikationsliste finden sich Beiträge zur Effizienz des Versicherungswesens, zu den konjunkturellen Wirkungen der Schuldenstrukturpolitik, zum Problem der Baulücken, zur Bedeutung des Risikos als Produktionsfaktor. Er hat sich mit Marx beschäftigt und mit Keynes, mit dem Coase-Theorem und mit dem Haavelmo-Effekt. Einen klaren wissenschaftlichen Schwerpunkt, wie ihn viele andere Ökonomen für sich setzen, besitzt Sinn nicht: "Ich bin Generalist." Er will mitreden, präsent sein - auf möglichst vielen Gebieten. In der Fachwelt fanden seine Beiträge stets Beachtung, breiteres Aufsehen erregte er jedoch erst 1991 durch das Buch "Kaltstart", das die Wirtschaftspolitik nach der Wiedervereinigung behandelt.
Zu einem Zeitpunkt, zu dem sich die meisten anderen Ökonomen in ratloses Schweigen hüllten, kritisierten Sinn und seine Frau Gerlinde drei ökonomische Kardinalfehler der Politik. Erstens: die Rückgabe von Alteigentum, die eine rasche Festlegung der Eigentumsverhältnisse - unverzichtbarer Ordnungsrahmen für eine Marktwirtschaft - verhindert. Zweitens: den Verkauf von Ost-Unternehmen durch die Treuhandanstalt, der die Möglichkeiten des Kapitalmarkts überstrapazierte und zur "Schleuderaktion" verkam. Und drittens: die viel zu hohen Tarifabschlüsse, welche die Wettbewerbschancen der ostdeutschen Betriebe beeinträchtigen und, so die Ökonomen, wie ein "industrielles Beschäftigungsverbot" wirken.
Das Alternativkonzept der Sinns sah unter anderem ein fünfjähriges Lohnstillhalteabkommen vor. Als Ausgleich sollten die Ostdeutschen stille Unternehmensbeteiligungen von der Treuhand erhalten. An Investoren sollten (Mehrheits-)Beteiligungen gehen, die dem Wert ihrer Investitionen und dem eingebrachten Know-how entsprachen.
Ob dieses Modell einem Praxistest standgehalten hätte, bleibt bis heute umstritten - seine Vorteile indessen liegen auf der Hand: Das niedrigere Lohnniveau hätte Arbeitsplätze gerettet u eine Unternehmensübernahme für Investoren attraktiver gemacht - zumal diese dafür weniger Kapital hätten einsetzen müssen. Zugleich wären die Ostdeutschen am früheren Volkseigentum beteiligt worden - auch aus politischer Sicht eine elegante Lösung.
Durchsetzbar waren die Ideen nicht, obwohl Sinn in Interviews, Artikeln und Gesprächen für sein Konzept geworben hat. Das ärgert ihn noch heute - nicht nur als Ökonomen. Als Dreizehnjähriger erlebte Sinn in Berlin den Mauerbau mit. Die Verzweiflung der Menschen hat er nie vergessen. Nach der Wiedervereinigung war ihm der Aufbau Ost ein persönliches Anliegen. Effizient und gerecht hätte es vor sich gehen sollen - eine Chance, die nach Sinns Überzeugung vertan wurde. Die Folgen: hohe Arbeitslosigkeit, unnötige Konkurse, ungleiche Vermögensverteilung, Streit um die Finanztransfers aus dem Westen. Sinn: "Dieser Fehler hat Deutschland um Jahrzehnte zurückgeworfen."
Wenn sein Engagement auch vergeblich war, seiner Karriere hat es nicht geschadet. 1993 hätte Sinn die Leitung des neugegründeten Max-Planck-Instituts zur Erforschung von Wirtschaftssystemen übernehmen können. Die Aufgabe hätte ihn gereizt, doch er lehnte ab, weil ihm das Gesamtkonzept nicht stimmig erschien. Aber Sinn wäre nicht Sinn, wenn er die Offerte nicht geschickt genutzt hätte, um bei den Münchnern zusätzliche Mittel für sein Forschungsinstitut lockerzumachen. Dessen Gästeliste liest sich inzwischen wie ein Who's who der Wirtschaftswissenschaft: Richard und Peggy Musgrave, Kenneth Arrow, Bruno Frey, Barry Eichengreen... "Die deutschen Ökonomen schmoren viel zu sehr im eigenen Saft", sagt Sinn, "das Institut ist unser Fenster zur Welt." Und dahin lädt er die zweite Garnitur erst gar nicht ein.