Hans-Werner Sinn, der Leiter des ifo Instituts für Wirtschaftsforschung in Munchen, polarisiert auf der ganzen Linie. Nicht nur wegen seiner bisweilen steilen Thesen, die immer genügend medienwirksamen Widerspruch herausfordern, sondern auch mit seiner Ubiquität. Kaum eine Talkshow hat der Wissenschaftler mit dem auffälligen Ahab- Kapitänsbart in den vergangenen Jahren ausgelassen, wenn es darum geht, seine Ideen zu verbreiten und seine Bucher zu bewerben. Die Frage stellt sich unweigerlich, inwieweit die Sinn'schen Thesen tatsächlich das Ergebnis wissenschaftlicher Forschung sind und durch die Formulierungskünste eines Hans- Werner Sinn einfach besonders schnell ihren Weg in die Öffentlichkeit finden, oder ob es sich dabei nur um die PR-Masche eines geschäftstüchtigen Institutschefs handelt, der mit möglichst plakativen und extremen Äußerungen auf sich und sein Institut aufmerksam machen will und sich auf diese Weise mehr Drittmittel erhofft.
Dass Sinns Thesen bisher stets für Debatten gut waren, zeigen schon seine Buchtitel: „Ist Deutschland noch zu retten?", so einer seiner ersten Bestseller, in dem er die Agenda- Reformen für unzureichend hielt. Oder „Die BasarÖkonomie", wo er den „pathologischen Exportboom" der deutschen Wirtschaft kritisiert. „Das grüne Paradoxon" nahm die Energiepolitik aufs Korn. Die Streitschrift „Kasino-Kapitalismus" war nach der Finanzkrise eine Abrechnung mit der angelsächsischen Form des Finanzkapitalismus. Und mit „Die Target-Falle" wendet er sich nun — recht schrill in der Wortwahl — gegen die praktizierte Form der Euro-Rettung. Deutschland sei dadurch „erpressbar geworden", es sei eine „falsche Therapie" im Gange, die Euro-Rettungsfonds seien ein „Fass ohne Boden" und eine „Vermö-gensvernichtungsmaschine" habe ihre Arbeit aufgenommen.
Auch seine Aufsätze in Zeitungen und Zeitschriften zeichnen vom Autoren das Bild eines „Doomsday-Ökonomen". Offenbar tritt Sinn hier in die Fußstapfen des umstrittenen (aber geschäftstüchtigen) US-Ökonomen Nouriel Roubini. „Die Bankenunion ist ein Desaster", heißt das Verdikt in einem Aufsatz. In einem anderen schreibt er: „Frankreich droht eine Flaute auf Jahrzehnte." Er fordert zudem: „Die Eurozone muss verkleinert werden." Es ist von den „Kollateralschäden der Rettungspolitik" die Rede. Und jüngst nimmt er sich — passend zur Klage der Kommunen über die Armutszuwanderung in die Sozialsysteme — die Ausländerpolitik zur Brust, sieht durch die Armutsimmigration den deutschen Sozialstaat erodieren und fordert die Geltung des „Heimatlandprinzips" für die Sozialtransfers ein. Das jeweilige Heimatland sollte für die soziale Sicherung der Arbeitsmigranten verantwortlich bleiben oder zumindest den pekuniären Maßstab der deutschen Leistungen bilden.
Sinn hat mit seinen Thesen nicht immer ins Schwarze getroffen. So war seine Kritik an der Agenda 2010 gelinde gesagt vorschnell. Und was die Euro-Rettung und die Bankenunion anbelangt, so sind sehr viele Ökonomen diametral anderer Auffassung. Bisweilen wird sogar an der Interpretation der von Sinn jeweils präsentierten Datenfakten gezweifelt. Im Weg steht hier sein Absolutheitsanspruch, mit dem er seine Thesen verkündet und keinen Widerspruch duldet. Das mag auch mit seinem wissenschaftlichen Erfolg zusammenhängen, weil er sich anderen überlegen fühlt. Immerhin gilt er als einer der international angesehensten und bekanntesten deutschen Ökonomen überhaupt und seine wissenschaftliche (Publikations-)Leistung steht dem in nichts nach, kann nur als „phänomenal" bezeichnet werden und sucht ihresgleichen in der deutschen Volkswirtschaft. Und selbst was seine Fähigkeit angeht, Debatten loszutreten, wie zuletzt den Streit um die Bedeutung der Target-Salden der Europäischen Zentralbank (EZB), so hat er damit eine wichtige Funktion in der Politik inne. Denn es gibt nur wenige Personen des öffentlichen Lebens, die es schaffen, Themen auf die Agenda zu heben, die im Berliner Politikbetrieb wegen ihrer Komplexität ansonsten gerne liegen gelassen werden. Erst die öffentliche Debatte sorgt dann für die nötige Transparenz und Argumentenaustausch, die notwendig sind, damit der demokratische Willensbildungsprozess funktionieren kann.
Sinn hat nun mitteilen lassen, dass er seinen Vertrag beim ifo Institut für weitere drei Jahre verlängert hat. Insofern wird uns der Debattenökonom noch länger erhalten bleiben und weiter für interessante neue Themen sorgen. An diesem Donnerstag feiert Hans-Werner Sinn seinen 65. Geburtstag.
Unveröffentlichter Leserbrief vom 7. März 2013 -
zum Artikel "Hans-Werner Sinn 65", Börsen-Zeitung Nr. 45, S. 16.
Sehr geehrter Herr Lorz,
wir haben Ihren Beitrag zu Hans-Werner Sinn in der Börsen-Zeitung vom 6. März 2013 mit Interesse zur Kenntnis genommen. Vielen Dank, dass Sie sich der Mühe unterzogen haben, zum 65. Geburtstag etwas zu schreiben.
An drei Stellen ist Ihr Beitrag nicht korrekt.
1. Nicht Kollegen von Sinn sprachen von Prof. Propaganda, sondern Der Spiegel. Der Spiegel zitiert den reichlich unter die Gürtellinie zielenden Begriff nicht, sondern hat ihn in selbst erfunden.
2. Das wörtliche Zitat zu Frankreich ist nicht korrekt. Sinn hat bei Frankreich von einem Jahrzehnt der Flaute im Singular, aber nicht von Jahrzehnten im Plural gesprochen.
3. Sinn hat die Agenda 2010 mit seiner Aktivierenden Sozialhilfe vom Mai 2010 vorbereitet. Prof. Wiegard, der damals im Sachverständigenrat war, nennt seine Arbeit die „intellektuelle Grundlage der Agenda 2010“. Insofern ist Ihre Aussage, Sinn sei mit seiner Kritik an der Agenda vorschnell gewesen, zumindest irrefüh-rend. Ich könnte Ihnen eine Reihe von Stellungnahmen zeigen, die beweisen, dass Sinn auch in der Zeit nach der Agenda zu den ersten Ökonomen gehörte, die darauf hinwiesen, dass die Agenda ihre segensreichen Wirkungen entfaltet hat. Kaum ein Ökonom hat dies so häufig betont wie er.