Herr Prof. Sinn, warum kritisieren Sie unsere Klimaschutzpolitik?
Weil sie nicht durchdacht ist und nichts bringt. Die ihr zugrunde liegende Hypothese ist, dass es sich verhält wie bei der Kollekte in der Kirche. Was der Einzelne hinein gibt, addiert sich mit dem, was die anderen geben, und so kommt in der Summe einiges Geld zusammen. Selbst wenn manche nicht mitmachen, hilft die eigene Aktion wenigstens ein bisschen. – Leider ist diese Sichtweise falsch. Die Realität funktioniert nicht so simpel und linear, sondern ist komplex und besteht aus sich gegenseitig beeinflussenden Regelkreisen. Das wird überhaupt nicht beachtet, sondern völlig ignoriert. Unsere Klimapolitik ist den Beweis für ihre Wirksamkeit bisher schuldig geblieben.
Sie sind also nicht gegen Klimaschutz, sondern für einen besseren?
So ist es! Ich halte den Klimaschutz für eine der wichtigsten und dringendsten Aufgaben unserer Zeit. Und gerade deshalb kritisiere ich die momentan praktizierte Politik, denn die bewirkt entweder nichts oder vermutlich sogar das Gegenteil dessen, was sie eigentlich will. Viele gut gemeinte Einzelmaßnahmen ergeben noch lange keine wirksame Strategie, sondern nur blinden Aktionismus.
Wie kann das Senken von CO2-Emissionen kein sinnvoller Beitrag zum Klimaschutz sein?
Ein nationales Senken der CO2-Emissionen führt global betrachtet noch lange nicht zum gleichen Effekt. Der europäische CO2-Emissionshandel legt die Höhe der nationalen CO2-Emissionen durch die Zahl der erworbenen Zertifikate genau fest. Innerhalb Europas definiert die Gesamtmenge der Zertifikate die Gesamtmenge aller CO2-Emissionen. Das bedeutet auf Deutschland bezogen: Das, was wir an fossiler Energie einsparen, wird in einem anderen europäischen Staat umso mehr verbraucht. Die Politik appelliert an die Bürger, den Stand-by-Modus ihres Fernsehgerätes zu deaktivieren, Energiesparbirnen zu kaufen und Photovoltaikanlagen auf ihre Dächer zu montieren – doch die Folge ist dann nur, dass die Kraftwerke, die bei uns abgeschaltet werden, ihre Emissionszertifikate auf dem europäischen Markt verkaufen, so dass in anderen EU-Ländern entsprechend mehr Kraftwerke betrieben werden können. Wir drücken durch unsere Aktionen den Preis der Emissionszertifikate und ermuntern die anderen Europäer zur Energieverschwendung. Wenn wir Kraftwerke ausschalten, gehen sie anderswo in Betrieb, und zwar genau in einem Umfang, dass dort die Menge CO2 zusätzlich in die Luft geblasen wird, die wir einsparen.
Sie behaupten ja sogar, die CO2-Emissionen nähmen zu. Wie kann das sein?
Das liegt an der Reaktion der Ölscheichs und der Eigentümer der großen Kohlenminen, die ja die eigentlichen Klimamacher sind, weil sie mit ihrem Angebot bestimmen, wie viel Kohlenstoff aus der Erde in die Luft kommt. Mit unserer immer grüner werdenden Politik machen wir ihnen Angst vor der Zukunft und veranlassen sie, schneller zu extrahieren, als sie es sonst getan hätten. Wenn Europa die Menge der Umweltzertifikate im Laufe der Zeit immer mehr verringert und insofern die Nachfrage nach fossilen Brennstoffen immer mehr dämpft, werden den Ressourcenanbieter die zukünftigen Märkte zerstört. Das ist so ähnlich wie eine angekündigte Enteignung und veranlasst die Ressourcenbesitzer, ihre Bestände vorher zu verkaufen. Der Klimawandel beschleunigt sich. Das nenne ich „das grüne Paradoxon“.
Was machen die anderen Länder? Wenn die auch sparen, können die Ressourcenbesitzer ja nichts verkaufen.
Richtig. Aber dazu müsste zunächst ein weltweites Umwelt- abkommen her, an dem sich alle beteiligen. Vorläufig spielen die Chinesen, die Inder, die USA und viele anderen den Trittbrettfahrer. Sie freuen sich über die niedrigen Preise für fossile Brennstoffe, die wir durch unsere Sparaktionen und die Gegenreaktionen der Ressourcenbesitzer erzeugen. Die Umweltsünder können nicht nur die Mengen extrahieren, die wir freigeben, sondern erhalten zusätzlich noch das neue Angebot, das die Ressourcenbesitzer durch ihre Fluchtreaktionen bereitstellen.
Die aktuelle Klimaschutzpolitik muss also mehr die Logik ökonomischer Prozesse beachten?
Ja, unbedingt. Obwohl in der Ökologie ja immer von Ganzheitlichkeit die Rede ist, wurden ökonomische Prozesse bisher nicht richtig wahrgenommen. Die Klimapolitik Deutschlands und der EU hat dem Problem des Angebots fossiler Brennstoffe bislang keinerlei Aufmerksamkeit geschenkt. Die Hälfte des Marktgeschehens blenden wir einfach aus. Stattdessen erließ man einen unüberschaubaren Wildwuchs an Verordnungen, Gesetzen und Förderprogrammen, die allesamt nur auf die Nachfrage abzielen. Ich bin über diese Ignoranz zutiefst beunruhigt. Wir brauchen eine illusionsfreie und an der Realität orientierte Klimaschutzpolitik, denn nur die hat Chancen, die Welt vor dem Klimakollaps zu bewahren.
Unter welchen Rahmenbedingungen würde denn der Klimawandel gebremst statt beschleunigt?
Zunächst eine theoretische Antwort: Wenn heute eine sehr entschlossene Klimaschutzpolitik gemacht würde und man glaubhaft ankündigt, diese Politik in der Zukunft wieder zu lockern, dann verstünden das die Anbieter fossiler Energieträger als Aufforderung, heute möglichst wenig zu fördern und zu verkaufen, weil in der Zukunft weitaus höhere Gewinne winken. Nicht ob die Nachfrage eingeschränkt wird, ist entscheidend, sondern wann sie eingeschränkt wird. Salopp ausgedrückt: Wenn man die Nachfrage in der Zukunft herunterdrückt, sprudelt das Öl heute aus dem Boden. Wenn man die Nachfrage heute herunterdrückt, sprudelt das Öl in der Zukunft aus dem Boden. Diese zeitliche Verschiebung ist für die Bremsung des Klimawandels aber entscheidend.
Die aktuelle Klimaschutzpolitik sieht ja genau umgekehrt aus.
Ja, und genau das ist das große Problem. Man geht den Klimaschutz langsam an, will heute den Verbrauch fossiler Energieträger noch relativ moderat und später dann immer mehr einschränken. Die Einsparlasten sollen vor allem in ferner Zukunft anfallen, während die heutigen Generationen noch weitgehend verschont bleiben. Die Politiker wollen wiedergewählt werden, wollen sich bei Wählern deshalb nicht allzu unbeliebt machen. Deshalb ist Klimaschutz bisher vor allem eine Ankündigungspolitik. Das Jahr 2050 ist so weit entfernt, dass man für diese Zeit mit sehr mutigen Politikentwürfen glänzen kann, ohne die Zustimmung heutiger Wähler zu verlieren. Die Konsequenz dieser Verschiebetaktik ist aber eben, dass die Eigentümer fossiler Bodenschätze erschreckt aufhorchen und sich genötigt sehen, ihre Energieressourcen vor dem Jahr 2050 aus dem Boden zu holen und auf dem Weltmarkt zu verkaufen – je schneller, desto besser. Die Mengen, deren Einschränkung die Politik für künftige Zeiträume ankündigt, quellen vorher umso kräftiger aus dem Boden heraus und werden auch leider ihre Abnehmer finden.
Ein Nachlassen der CO2-Senkungspolitik in der Zukunft ist aber kaum glaubhaft vermittelbar.
Das ist sicherlich richtig. Deshalb sagte ich auch, dass ich zunächst eine theoretische Antwort gebe. Ich wollte mit ihr nur die Unwirksamkeit der heutigen Klimaschutzpolitik demonstrieren. Wir tun genau das Gegenteil von dem, was eigentlich sinnvoll wäre.
Welche Maßnahmen wären denn aus praktischer Sicht geeignet, den Klimawandel zu bremsen?
Man könnte z. B. weltweit von der Wohnsitzlandbesteuerung der Kapitaleinkünfte zur Quellenbesteuerung übergehen. Damit würde man die Kapitalerträge der Eigentümer der natürlichen Ressourcen erfassen und ihnen den Umtausch von Bodenschätzen in Finanzanlagen vermiesen. Es würde für sie attraktiver, ihre Rohstoffe im Boden zu lassen, später abzubauen und dann durch höhere Rohstoffpreise eine höhere Rendite zu erzielen. Ein anderes wirksames Konzept ist, wie erwähnt, die Durchsetzung eines weltweiten Emissionshandels. Da müssen dann aber alle Staaten mitmachen, sonst ist er unwirksam. Ein weltweiter Emissionshandel ermöglicht eine strikte CO2-Mengenkontrolle. Aber gerade weil die Eigentümer fossiler Rohstoffe befürchten, dass wir das demnächst realisieren, versuchen sie heute, möglichst schnell möglichst viel davon abzubauen und zu verkaufen.
Dann geht es doch eigentlich darum, eines der beiden Konzepte möglichst schnell zu verwirklichen?
Genau. Erst wenn es gelingt, eines der beiden Konzepte oder am besten beide Konzepte umzusetzen, dann wird der Klimawandel wirklich gebremst. Deswegen sollten alle Anstrengungen in diese Richtung gehen. Dann brauchen wir den ganzen unübersichtlichen Wust an gesetzlichen Regelungen und Förderungen nicht mehr.
Apropos Förderung: Wie beurteilen Sie die Abwrackprämie – von der Regierung ja „Umweltprämie“ genannt? Wenn wir das „grüne Paradoxon“ mal außer Acht lassen...
Die Abwrackprämie ist ökonomisch und ökologisch völliger Unsinn. Autos sind nach 9 Jahren noch lange keine Schrottkisten. Ein unfallfreier BMW oder Mercedes fährt schon mal 20 Jahre, ein VW Golf 15 Jahre. Motoren halten heute 300.000 km und mehr, Karosserien bis zu 30 Jahre. Seine Gebrauchtwagen verkaufte Deutschland bislang im großen Stil nach Afrika, Osteuropa und Zentralasien – im Jahr 2006 für rund 6 Mrd. Euro. Für 5 Mrd. Euro Steuergelder will die Regierung diesen Export nun auf unsere Schrottplätze umlenken. Eine abenteuerliche Wegwerflogik! – Auch das Argument, die Abwrackprämie diene dem Umweltschutz, weil sie alte Spritschlucker durch Autos mit niedrigerem Verbrauch ersetzt, ist nicht haltbar, denn die Herstellung der Fahrzeuge braucht sehr viel Energie. Wenn man die fossile Energie für die Herstellung eines Golf auf eine Lebensdauer von neun Jahren umlegt, entsteht ein Gesamtverbrauch an fossiler Energie, der um zwei Drittel über dem laufenden Spritverbrauch liegt. Das bedeutet, dass sich der Ersatz eines alten Autos durch ein neues nur lohnt, wenn das alte Auto im laufenden Spritverbrauch um mehr als zwei Drittel über dem neuen Auto lag. Diese Bedingung ist bei neun Jahre alten Autos ähnlicher Klassen nie erfüllt, denn so groß ist der technische Fortschritt bei Weitem nicht. Das meistverkaufte Modell des neuen Golf mit 1,4 Litern Hubraum ist zum Beispiel nicht sparsamer als ein vor neun Jahren produziertes Modell, weil der gesamte Effizienzgewinn bei den Motoren für ein höheres Gewicht genutzt wurde.
Zurück zum Klimawandel: Ist nicht auch die brutale Logik der Marktwirtschaft die Ursache des Übels?
Nein, die Probleme des Klimawandels resultieren eher daraus, dass Märkte fehlen. Zum einen fehlt ein Markt für gute Luft. Man will ihn indirekt mit einem System des Handels mit Emissionszertifikaten herstellen. Zum anderen ist der Markt für die fossilen Bodenschätze unterentwickelt, weil sich die Eigentumsrechte an diesen Bodenschätzen über lange Zeiträume kaum wirksam garantieren lassen. Die politische Unsicherheit in den erdölexportierenden Ländern ist groß. Aus Angst vor der Enteignung durch neue Potentaten wird zu schnell extrahiert.
Herr Prof. Sinn, vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Günther Hartmann