Herr Sinn, wo stehen wir heute in der Wirtschafts- und Finanzkrise?
Das Schlimmste ist vorbei. Der Boden nach dem Absturz wurde im späten Frühjahr erreicht, wir krabbeln jetzt übe das Geröllfeld langsam hoch.
Die Konjunktur zieht bereits an. War der Einbruch nicht ganz so dramatisch wie befürchtet?
Nicht so dramatisch, wie man im letzten Winter noch befürchten konnte. Die ersten elf Monate des Abschwungs vom April 2008 an gerechnet, waren so schlimm wie der Absturz bei der Weltwirtschaftskrise 1929.
Daran erinnern wir uns nicht mehr richtig...
Die Ökonomen schon. Und wer weiss, was daraus in Deutschland politisch entstanden ist, dem wird klar, um was es hier ging. Aber: Die Staaten haben jetzt umfangreiche Rettungspakete geschnürt, an Konjunkturpaketen in den G-20-Ländern 1400 Milliarden Dollar und an Rettungspaketen für die Banken knapp 7000 Milliarden Dollar. Diese gigantischen Summen wirken.
In Buch «Kasino-Kapitalismus» schreiben Sie, die Konjunkturpakete seien «Opium für die Wirtschaft».
Opium oder auch ein starker Kaffee. Man braucht das, um wieder in die Gänge zu kommen, kann das aber nicht immer zu sich nehmen. Diese Staatsverschuldung kann man ein bis zwei Jahre betreiben, dann muss sie gewirkt haben, wenn nicht, muss man trotzdem langsam aus diesen Programmen raus.
Deutschland hat 5 Milliarden Euro für Auto-Abwrackprämien ausgegeben. Die Autoindustrie läuft wieder, trotzdem gehören Sie zu den Kritikern dieses Programms. Wieso?
Weil es ein Einmaleffekt ist, im nächsten Jahr wird der Kater umso grösser sein. Damit ist Geld von anderen Sektoren der Wirtschaft abgezogen worden, die Leute haben keinen Kühlschrank und keinen Fernseher gekauft, sondern eben ein Auto. Und die alten Autos, die wir früher nach Afrika und Kasachstan oder sonst wohin exportiert haben und einen Exporterlös von sechs Milliarden Euro gebracht haben, diese Autos sind jetzt in der Schrottpresse.
Sie haben das als «Wegwerfkapitalismus» bezeichnet.
Ja, den Vorwurf, den Linke immer gemacht haben, hat die linke Politik gerechtfertigt.
Sie haben sich auch gegen die Opel-Rettung ausgesprochen.
Es ist zwar richtig, dass der Staat jetzt Konjunkturprogramme auflegt, weil es an gesamtwirtschaftlicher Nachfrage fehlt. Der Staat kann aber nicht im Einzelfall entscheiden, welche Firmen gerettet werden sollen. Dazu fehlen ihm die nötigen Befugnisse und Kenntnisse.
Das sagt der Ökonom, der auch weiss: Die Politik musste Opel retten.
Natürlich war das politisch sehr plausibel, aber es war keine ökonomisch-rationale Entscheidung. Für Opel ist pro Arbeitsplatz mehr Geld garantiert worden, als ein Arbeitsplatz kostet. Mit diesem Geld hätten in andern Industrien vielleicht mehr Arbeitsplätze gerettet werden können.
Sind für Sie Steuersenkungen auch Konjunkturprogramme?
Ja, genauso wie eine Erhöhung der Staatsausgaben. Eine Ausgabenerhöhung wirkt unmittelbarer. Wenn der Staat eine Autobahn baut, ist diese Bautätigkeit sichergestellt. Steuersenkungen, wie sie die neue deutsche Regierung vorsieht, wirken nicht so unmittelbar, weil ein Teil des Geldes vielleicht gespart wird. Dafür verteilt sich der Effekt besser auf die ganze Wirtschaft.
Man könnte auch die Löhne erhöhen, damit die Leute mehr Geld in den Taschen haben.
Aber die Unternehmen weniger. Die Lohnquote ist in der Krise dramatisch gestiegen, weil die Löhne stabil geblieben, die Umsätze gesunken und die Gewinne weggebrochen sind. Womit soll ich die Löhne erhöhen, wenn nichts mehr da ist?
Das Platzen des Immobilienbooms, die eigentliche Ursache der Krise, bezeichnen Sie in Ihrem Buch als «Atomexplosion im Herzen Amerikas». Wieso hat sich diese Krise so rasch um den Globus verbreitet?
Die Krise in den USA war riesengross, der Vermögensverlust bei den amerikanischen Hausbesitzern betrug 8000 Milliarden Dollar. Das hatte wegen der regressfreien Kredite, die in den USA üblich sind, Auswirkungen auf das Bankensystem. Regressfrei heisst: Die Leute können, wenn ihr Haus überschuldet ist, einfach ihr Haus an die Bank zurückgeben, sie müssen nicht den Kredit zurückzahlen.
Die Bank erhält dann Briefe mit den Schlüsseln des Hauses.
Ja, durch die Klingelbriefe hat sich die Immobilienkrise unmittelbar auf das Bankensystem übertragen. Parallel dazu ist das Verbriefungssystem zusammengebrochen: Die Banken hatten die Immobilienkredite mehrmals verbrieft und in der ganzen Welt verkauft. Dieser Verbriefungsmarkt, der 2006 ein Volumen von 1900 Milliarden Dollar hatte, ist jetzt auf 50 Milliarden zusammengebrochen, also um 97 Prozent. Keine andere Zahl stellt die Krise des heutigen USFinanzierungssystems so gut dar wie diese.
Am 15. September 2008 ging Lehman Brothers pleite. War es falsch, diese Bank pleitegehen zu lassen?
Ja, dadurch wurde die Krise ausgelöst. Ein Ereignis, das von den Banken für unmöglich gehalten wurde, wurde plötzlich möglich. Der Interbanken-Markt brach zusammen. Ohne diese Entscheidung wäre das vielleicht bis zum heutigen Tag nicht passiert.
Das heisst: Der Staat musste den Banken helfen.
Ja. Das Eigenkapital der Banken ist in der Schweiz um mehr als die Hälfte, in Amerika um die Hälfte geschrumpft. Auch in andern Ländern sind erhebliche Anteile verloren gegangen. Die Banken müssen nun, wenn Sie die vorgeschriebenen Bestimmungen einhalten wollen, ihr Kreditvolumen reduzieren. Die Deutsche Bank hat ihr Aktivgeschäft um 350 Milliarden eingeschränkt. Das ist das Rezept für eine Kreditklemme, die aber unbedingt vermieden werden sollte. Deshalb müssen wir den Banken helfen.
Soll der Staat Aktionär der Banken werden, wenn er das tut?
Ja, wenn der Staat hilft, hat er nur zwei Möglichkeiten: das Geld schenken oder es im Austausch für Ansprüche des Staates hergeben. Da der Steuerzahler nichts zu verschenken hat, bin ich für Letzteres, auch aus einem zweiten Grund: Wenn der Steuerzahler das Geld verschenkt, dann wissen die Banken, dass sie weiter riskant können, sie können ja nie etwas verlieren, sondern immer nur gewinnen.
Die Schweiz hat der UBS 6 Milliarden zugeschossen, aber, als der Markt günstig schien, diese Beteiligung wieder verkauft.
Das ist genau der richtige Weg. Das habe ich auch empfohlen.
Gleichzeitig hat man aber eine Bad Bank gegründet, die der UBS problematische Papiere abgenommen hat. Sie erklären eine Bad Bank zu einer «bad idea».
Wenn der Staat eine Bad Bank gründen hilft, sollte er dafür auch Aktien kriegen. Insofern finde ich eine Bad Bank, die den Steuerzahler nur Geld kostet, nicht richtig.
Sie schreiben einige sehr dramatische Dinge punkto Schweizer Banken. Sie wären ohne Staatshilfe dem Untergang geweiht gewesen, heisst es in Ihrem Buch.
Die UBS hat ja mehr Abschreibungsverluste als Eigenkapital gehabt.
Sie erwähnen nicht nur die UBS.
Wenn man die Abschreibungen hochrechnet, bleibt nicht mehr viel. Die Schweizer Banken haben Abschreibungsverluste in Höhe von 54 Prozent ihres Eigenkapitals gehabt, in Westeuropa gingen laut dem Internationalen Währungsfonds erst 20 Prozent verloren. Das bedeutet, dass in der Schweiz Rekordverluste erzielt wurden.
Also ist die Lage bei den Schweizer Banken schlimmer, als man denkt?
Das gilt nicht nur für Schweizer Banken, sondern für alle Banken Westeuropas. Wer Bankaktien kauft, muss nach den Prognosen des Internationalen Währungsfonds wissen, dass er stille Verluste mitkauft, die in den Bankbilanzen noch nicht offengelegt sind.
Sie schreiben sogar, im Frühjahr 2010, bei Offenlegung der Bilanzen, werde möglicherweise das private Bankwesen am Ende sein – eine dramatische Aussage.
Gemäss Zahlen des internationalen Währungsfonds ist der grösste Teil des Weges bis zur vollen Abschreibung noch zurückzulegen. Viele Bankensysteme haben schon über die Hälfte ihres Eigenkapitals verloren, und dazu gehört das Schweizer System. In Deutschland sieht es auch nicht viel besser aus: Etwa 70 Milliarden Euro sind abgeschrieben, aber nach dem IWF war das vermutlich allenfalls 40 Prozent der nötigen Gesamtabschreibungen. Das ist katastrophal, das gesamte Eigenkapital des deutschen Bankensystems lag vor der Krise bei 305 Milliarden Euro.
Ihr Buch heisst «Kasino-Kapitalismus». Sehen Sie sich als Gegner des Kapitalismus?
Nein, im Gegenteil. Wie kommen Sie darauf? Das kapitalistische System hat es geschafft, durch die dramatische Akkumulation des Kapitals die Vermögenswerte zu schaffen, die den Wohlstand der westlichen Welt begründen. Es ist eine Erfolgsgeschichte sondergleichen, die selbst Karl Marx damals bewundert hat.
Wieso dann «Kasino-Kapitalismus?
Wir wissen heute, dass das Privileg der Haftungsbeschränkung, welches das Wesen der Kapitalgesellschaft ist, von US-Investmentbanken im Übermass ausgenutzt wurde. Sie haben mit vie zu wenig Eigenkapital gearbeitet. Leider ist das in Europa von immer mehr Banken nachgeahmt worden. Diese Haftungsbeschränkung bei minimalem Eigenkapital führt zu Glücksrittertum, zu riskanten Anlagestrategien, die auf dem Rücken des Steuerzahlers betrieben werden, weil man weiss Wenn es gut geht, kann man die Gewinn einstecken, wenn es schlecht geht, kommt der Steuerzahler zu Hilfe und rettet eine Bank, weil sie systemrelevant ist. Die UBS und die Deutsche Bank haben mit weniger als zwei Prozent Eigenkapital gearbeitet.
Die «Gier der Manager» ist als Ursache allen Übels gebrandmarkt worden. Einverstanden?
Nein. Die Gier begleitet den Menschen, solange es ihn gibt. Die Erklärung für die Missstände liegt darin, dass die Gier nicht durch ein entsprechendes Regulierungssystem gezügelt wurde. Eine Marktwirtschaft ist ein System, das den Eigennutz der Menschen produktiv kanalisiert und die Menschen zwingt zu arbeiten, wenn sie reich werden wollen. Damit ist der heutige Wohlstand wesentlich zu erklären. Ohne Regeln, werden unproduktive Verhaltensweisen gefördert. Es ist nicht produktiv, wenn der eine zulasten des andern reich wird, es ist nur produktiv, wenn er durch eigene Arbeit reich wird.
Wenn die Gier der Manager nicht an allem schuld ist – zäumt dann auch die Bonus- Debatte, die auch in der G-20 geführt worden ist, das Pferd am falschen Ende auf?
Diese Debatte ist oberflächlich. Das Problem liegt vorrangig nicht in den falschen Anreizsystemen fü Manager, sondern in falschen Anreizsystemen für Aktionäre. Verluste tragen sie nur bis zur Höhe ihres Eigenkapitals, das manchmal in der Nähe von null liegt. Wenn die Aktionäre mehr zu verlieren haben, werden sie auch von ihren Managern verlangen, vorsichtiger zu operieren, und sie werden Bonusstrukturen festlegen, welche die Manager zu vorsichtigerem Verhalten veranlassen.
Aber Spitzenlöhne von 10, 20, 30 Millionen Euro, Franken oder Dollar waren doch einfach überrissen.
Mit Gerechtigkeit hat das nichts zu tun, auch nicht mit Leistung, aber viel mit Knappheit. Gute Manager sind knapp, ein schlechter kann leicht durch eine Fehlentscheidung Milliarden in den Sand setzen. Insofern sind den Aktionären gute Manager viel Geld wert, und sie stehen im Wettbewerb um solche Spitzenkräfte. Es ist wie beim Fussball: Alle Spieler in der Bundesliga sind gut, aber wer ein bisschen besser ist, erzielt gleich das Zehnfache des Gehalts, ohne sich wesentlich mehr anzustrengen.
In der Schweiz haben die Jungsozialisten eine Initiative gestartet, wonach in keinem Unternehmen die Lohnunterschiede mehr als 1:12 betragen sollen.
Das ist mit einer Marktwirtschaft nicht kompatibel. Eine Marktwirtschaft braucht starke Regeln, aber eines darf nicht festgelegt werden: das System der Löhne und Preise. Das ist ein Lenkungssystem, das die Feinsteuerung von Millionen von Entscheidungsträgern bewirkt. Wenn man da eingreift, gibt es nur Chaos und Probleme. Solche Lohneingriffe gehen nur im Sozialismus. Da nimmt man die damit verbundenen Effizienzprobleme und die Armut in Kauf. Die DDR hatte sicherlich eine viel gleichmässigere Lohnverteilung als die Bundesrepublik, aber dem Arbeiter, dem angeblich privilegierten Menschen, ging es in der DDR schlechter als dem angeblich so benachteiligten westdeutschen Arbeiter.
Kommt jetzt die Schuldenkrise?
Das könnte sein. Die Staatsschulden steigen dramatisch. Die Amerikaner werden im Haushaltsjahr 2010 vermutlich eine Netto-Neuverschuldung in Höhe von elf Prozent des Bruttoinlandsprodukts realisieren.
Werden Staaten versuchen, Schulden mit Inflation zu bewältigen?
Die USA auf jeden Fall. Die Erwartung, dass das so sein wird, hat den Dollarkurs ja auch schon gedrückt, und das ist ein Rezept, um Inflation zu erzeugen. Aber in Europa sieht es insofern anders aus, als die Europäische Zentralbank laut den Maastrichter Verträgen keine Inflationspolitik machen kann, sie hat nur ein Ziel: Preisstabilität.
Ihr Buch erklärt, was passiert ist. Wieso sind Ökonomen erst hinterher mit klugen Analysen zur Stelle?
Die Analyse der Gefahrensituation ist sehr wohl vorher erfolgt, aber die Prognose des genauen Ablaufs einer solchen Krise kann nicht gelingen, weil niemand die einsame Entscheidung von Henry Paulson vorhersehen konnte, die Bank Lehman Brothers nicht zu retten.
Die Immobilienblase war schon vorher da.
Ja, auf diese Gefahr und die Gefahr des grossen amerikanischen Leistungsbilanzdefizits haben ja auch Heerscharen von Ökonomen hingewiesen. Ich habe 2003 ein Buch geschrieben, in dem ich vor dem Deregulierungswettbewerb der westlichen Länder insbesondere auch im Bankensystem gewarn habe.
Der Staat soll regulieren, aber nicht zu viel. Ist das Ihre These?
Es kommt nicht auf mehr oder weniger an, sondern auf die richtige Regulierung. Es ist eine Kunst, eine Wirtschaft durch Gesetze zu regulieren. In manchen Bereichen müssen wir deregulieren, insbesondere dort, wo der Staat in Lohn- und Preisstrukturen eingreift. Das geschieht etwa beim deutschen Sozialstaat, wo die Regulierung Massenarbeitslosigkeit bei Geringqualifizierten hervorgerufen hat. Da braucht es einen besseren, nicht kleineren Sozialstaat. Bei den Banken braucht es stärkere Regeln, etwa was das Eigenkapital betrifft. Und bestimmte Vertragsformen, Leerverkäufe zum Beispiel, haben keine sinnvolle Funktion und gehören eingeschränkt.
Was ist mit der Mehrfachverbriefung?
Die gehört ebenfalls verboten. Aber da ist der Markt ja schon verschwunden.
Sie wollen die Banken stärker regulieren, sind aber gegen die Regulierung von Lohnund Preisstrukturen – wo stehen Sie politisch?
Ich lasse mich nicht in ein Links-rechts-Spektrum einordnen. Das finde ich albern. Es gehört zur Standesehre des Volkswirts, dass er sich nicht politisch bindet, sondern zu Erkenntnissen kommt, die manchmal den Linken und manchmal den Rechten auf die Füsse treten. (Der Bund)