Hans-Werner Sinn ist ein gefragter Gesprächspartner in diesen Tagen 20 Jahre nach dem Mauerfall. Man merkt es daran, dass der Ifo-Präsident uns dieses Interview aus Zeitnot nur vom Auto aus geben kann. Früher als andere warnten Sinn und seine Frau Gerlinde 1991 in ihrem Buch „Kaltstart“ vor falschen Weichenstellungen und deren Folgen.
Herr Sinn, schon ein Jahr nach der Einheit haben Sie deren ökonomische Fehler angeprangert. Sehen Sie sich heute bestätigt?
Nicht dass Sie mich falsch verstehen: Ich war ein glühender Verfechter der Einheit. Doch wie sie dann ökonomisch organisiert worden ist, war naiv und falsch. Die Politiker haben eine ökonomische Grundweisheit auf den Kopf gestellt, die jeder Student im ersten Semester lernt: Wenn man eine Marktwirtschaft gründet, kann man zwar die Erstausstattungen an Vermögensrechten weitgehend nach Belieben zuteilen, doch darf man danach nicht mehr in das System der Preise und Löhne eingreifen.
Fing das Problem nicht beim Eins-zu-eins-Geldumtausch an?
Nein, erst bei der Lohnentwicklung. Das Problem war, dass man zugelassen hat, dass Gewerkschaften und Arbeitgeber aus dem Westen Löhne für die Ostdeutschen ausgehandelt haben. Die wesentlichen Verhandlungen fanden ja vor der Privatisierung statt. Die Wessis wollten von vornherein verhindern, dass sich ausländische Investoren der Treuhandfirmen bemächtigen, um dann in Ostdeutschland eine Niedriglohnkonkurrenz vor der eigenen Haustür aufzubauen. Mit Gerechtigkeitserwägungen hatte das wenig zu tun.
Ohne Lohnangleichung wären viel mehr Menschen ausgewandert.
Nur temporär. Auf Dauer eher weniger als bei der Massenarbeitslosigkeit, die durch die künstliche Lohnangleichung entstand. Bei zunächst niedrigen Löhne hätte es wesentlich mehr Investitionen gegeben. Wir hätten ein Wirtschaftswunder wie in Irland haben können! Dann wären mehr Jobs entstanden, die Löhne wären nach einer anfänglichen Verzögerung umso rascher gestiegen, und die Leute wären zurückgekommen.
Immerhin erreichen die Ostländer heute 70 Prozent des westdeutschen Bruttoinlandsprodukts (BIP) pro Kopf. Ist das nichts?
Mit der Angleichung ist es nicht so weit her, wie diese Zahl suggeriert. Erstens steckt da der künstlich aufgeblähte und teilweise mit Westgeld finanzierte Staatssektor drin. Zweitens wird die Angleichung beim BIP pro Kopf seit 1995 ausschließlich durch die massive Abwanderung der Ostdeutschen, also die Verringerung der Zahl der Köpfe, erzeugt. Das Wachstum des BIPs selbst war in dieser Zeit völlig gleich. Es gab keine wirkliche Konvergenz.
Hat wenigstens die Privatisierung einigermaßen funktioniert?
Ich bedaure, dass nicht der Versuch gemacht wurde, Joint Ventures zwischen Treuhandanstalt und internationalen Investoren zu bilden, so ähnlich, wie das bei Skoda in Tschechien gelungen ist. Das hätte die Belegschaften in den Ostfirmen zusammengehalten. Im zweiten Schritt hätte man dann die Firmenanteile der Treuhand an die Ostdeutschen verteilen können – so wie es der Einigungsvertrag vorsah. Das hätte der Ausgleich für Lohnzurückhaltung sein können.
War auch die massive Investitionsförderung ökonomisch falsch?
Die Förderung an sich war nach den lohnpolitischen Fehlentscheidungen alternativlos. Doch der Fehler war, nur den Kapitaleinsatz zu subventionieren. Damit hat man noch mehr Anreize geschaffen, Maschinen statt Menschen zu beschäftigen. Man hätte stattdessen die Lohnkosten subventionieren sollen, die waren ja zu hoch.
2006 bis 2008 ist die Schere zwischen Ost und West wieder größer geworden. Wie kriegen wir die Angleichung hin, wenn es schon im Aufschwung nicht klappt?
Im letzten Aufschwung wuchs die westdeutsche Wirtschaft etwas schneller, weil sie exportlastiger ist. Und in diesem Jahr haben wir drei Prozent Konvergenz allein durch den Absturz des Westens. Das ist eine Konvergenz, die man sich lieber erspart hätte. Wenn jetzt der Aufschwung kommt, wächst die Ostwirtschaft vermutlich wieder etwas langsamer.
Besteht überhaupt die Chance, dass sich die Lücke noch schließt?
Die Ostindustrie ist auf gutem Weg, die macht mir weniger Sorgen. Was mir aber nicht gefällt, ist der Rest der Binnenwirtschaft, der stagniert. Die Ostdeutschen sind sich gegenseitig zu teuer.
Wollen Sie die Lohnangleichung wieder rückgängig machen?
Nein, das Kind ist in den Brunnen gefallen, und jetzt muss man sich durchwurschteln. Die Hartz-IV-Sätze könnten freilich regionalisiert und an das Preisniveau vor Ort angepasst werden. Es kann nicht sein, dass der Hartz-IV-Empfänger in Ostberlin dasselbe kriegt wie der in Hoyerswerda, obwohl er in Berlin mehr für die Lebenshaltung bezahlen muss. Das würde indirekt auch die Lohnstrukturen flexibler machen.
Das politisch durchzusetzen ist doch vollkommen illusorisch.
Vielleicht. Aber ich halte es dennoch für richtig. Die Differenzierung nach der Kaufkraft ist erforderlich. Ich würde außerdem die Hinzuverdienstmöglichkeiten bei Hartz IV deutlich verbessern, um auch so stärkere regionale Lohnunterschiede zu ermöglichen, die den Standortbedingungen entsprechen.
Und abgesehen davon – was können wir jetzt noch tun?
Die Weichen wurden in den Anfangsjahren gestellt, damit müssen wir leben. Man kann das Problem jetzt nicht mehr über bloße Finanztransfers lösen. Der Solidarpakt muss wie beschlossen 2019 auslaufen. Die neuen Bundesländer müssen danach auf eigenen Beinen stehen.
Interview: B. Marschall, T. Fricke
Auch erschienen in Stern online