Der Ifo-Präsident warnt vor dem Einstieg in eine Transferunion und davor, ökonomische Gesetze zu ignorieren. Mit ihm sprach Dorit Heß.
Handelsblatt: Die Ereignisse überschlagen sich derzeit in Europa, was bleibt von 2010 für die Geschichtsbücher?
Hans-Werner Sinn: Hoffentlich nicht der Beginn der Transferunion Europas und damit der Schritt in eine neue Staatlichkeit, bei dem letztlich ein dauerhafter Ressourcentransfer aus Deutschland heraus institutionalisiert wird.
Handelsblatt: Sie wirken verdammt skeptisch. Warum?
Sinn: Wenn wir die Schulden der Länder der südwestlichen Peripherie Europas vergemeinschaften, lassen wir unsere Kinder für den überzogenen Konsum bezahlen, den diese Länder sich in den vergangenen Jahren geleistet haben. Wir versündigen uns an unseren Nachkommen. Die Schuldenstände sind astronomisch.
Handelsblatt: Aber das ist doch der Sinn einer Staatengemeinschaft: Starke schützen Schwache. Nicht?
Sinn: Es ist nicht ganz klar, was Stärke und Schwäche in diesem Zusammenhang heißt. Eine stetige finanzielle Hilfe für die Schuldenländer würde jedenfalls die Außenhandelsdefizite der Schuldenländer zementieren.
Handelsblatt: Aber es gibt keine Alternative, oder doch?
Sinn: Doch, die gibt es. Die Länder, um die es geht, müssen sich gesundschrumpfen, weil sie über ihre Verhältnisse gelebt haben. Der Ökonom spricht von einer realen Abwertung. Ohne eine längere Wirtschaftsflaute lassen sich die exzessiven Importe nicht schmälern. Um diese schmerzliche Erkenntnis werden auch die USA nicht herumkommen.
Handelsblatt: Fühlen Sie sich denn nicht als Europäer?
Sinn: Doch natürlich, aber nicht im Sinne der Generation von Helmut Kohl, deren Position ich so karikieren würde: "Wir wissen ja, dass die Franzosen uns bei den Verhandlungen gerne über den Tisch ziehen, aber lassen wir ihnen doch die Freude. Wir machen stattdessen unsere Geschäfte." Die politische Bequemlichkeit, die sich so rationalisieren ließ, war vor dem Euro vielleicht noch tolerierbar, weil wir da noch stark waren. Die Zeit ist aber lange vorbei.
Handelsblatt: Was ist anders?
Sinn: Unter dem Euro sind seit 2002 zwei Drittel der Ersparnisse aus Deutschland abgeflossen, mehr als tausend Milliarden Euro. Mit dem bisschen Geld, das dann noch hierblieb, wurden wir bei der Investitionsquote zum Schlusslicht aller OECD-Länder und beim Wachstum neben Italien Schlusslicht aller europäischen Länder. Wir sind seit 1995 beim BIP pro Kopf vom dritten auf den zehnten Platz in Europa zurückgefallen. Wir gehören längst nicht mehr zu den stärksten Ländern.
Handelsblatt: Das In- und Ausland feiert uns immerhin als Lokomotive der Euro-Zone. Etwa zu Unrecht?
Sinn: Man meint unser Wachstum, nicht die Muskelmasse. Wegen der Krise bieten die Banken die Ersparnisse der Deutschen wieder verstärkt in Deutschland an. Das belebt derzeit die Investitionen. Hinzu kommen gute Exporte nach Asien. Beides bringt uns nach 15 Jahren Flaute beim Wachstum endlich wieder an die Spitze. Aber das Niveau ist eben nicht mehr so toll wie früher. Selbst in Irland ist die Wirtschaftsleistung pro Kopf heute um 15 Prozent höher als in Deutschland.
Handelsblatt: Ist das nicht etwas opportunistisch: Wenn wir es uns ökonomisch erlauben können, politisch zu argumentieren, tun wir es, andernfalls nicht?
Sinn: Ich bezweifle, dass die heute in Europa Verantwortlichen die wirtschaftliche Tragweite ihrer Entscheidungen voll verstehen. Sie sind dabei, die Fehler zu wiederholen, die Deutschland nach der Wiedervereinigung gemacht hat.
Handelsblatt: Wie meinen Sie das?
Sinn: Auch damals gab es eine Transferunion, dem ex-kommunistischen Schrotthaufen - denn mehr war die Wirtschaft im Osten nicht - wurden die Anspruchslöhne eines der am besten entwickelten Sozialstaaten der Welt übergestülpt. Die Haltung, das werde sich schon "einpendeln", nannte man "Primat der Politik". Aber nichts pendelte sich ein - im Gegenteil. Das Ausblenden ökonomischer Gesetze hatte verheerende Konsequenzen. Noch immer kosten die neuen Länder 60 Milliarden öffentliche Mittel pro Jahr, und seit 15 Jahren gibt es keine wirkliche Konvergenz mehr. Das einzige bisschen Konvergenz beim BIP pro Kopf stammte in dieser Zeit aus der Verringerung der Zahl der Köpfe im Osten.
Handelsblatt: Was empfehlen Sie der Bundeskanzlerin, einen noch schärferen Kurs, die komplette Isolation in Europa?
Sinn: Sie muss die deutschen Interessen wahren. Letztlich muss Frau Merkel auch mal bereit sein, einen Gipfel platzen zu lassen.
Handelsblatt: Isolation ist aber wohl das Letzte, was Deutschland will und guttut.
Sinn: Es geht um die Rolle der ökonomischen Gesetze. Wenn wir den Kapitalexport, der die außenwirtschaftlichen Ungleichgewichte zur Folge hatte, endlos fortführen, wird Europa irgendwann auseinanderbrechen. Das Grundprinzip muss bleiben, dass die Kreditgeber für die Risiken die Haftung übernehmen, damit sie sich vorsehen. Jetzt nachzugeben hieße, zunächst viel Applaus zu kriegen und dennoch nachher gescholten zu werden, weil die Kapitalexporte die deutschen Leistungsbilanzüberschüsse in die Zukunft fortsetzen. Wir werden es dem Rest Europas ohnehin nie recht machen können.
Handelsblatt: Nicht nur das Ausland, auch viele deutsche Politiker argumentieren, Deutschland habe jahrelang hohe Exportüberschüsse erwirtschaftet und müsse seinen Handelspartnern nun etwas "zurückgeben". Ist das denn so falsch?
Sinn: Dies ist eine tragische Fehlinterpretation der politischen Klasse. Ein Exportüberschuss ist ein Kapitalexport, und ein Kapitalexport ist ein Aderlass. Die aus dem Aderlass resultierende Flaute der Binnenwirtschaft hat die Importe gedämpft und Deutschland relativ zu den anderen Ländern immer billiger gemacht, was die Exporte beflügelt hat. Inwiefern hat der zur Ader Gelassene den anderen etwas zurückzugeben?
Handelsblatt: Wie geht es weiter?
Sinn: Deutschland steht ein erfolgreiches Jahrzehnt bevor, weil ein größerer Teil der deutschen Ersparnisse wieder zu Hause investiert werden wird. Bau- und Ausrüstungsindustrie könnten boomen. Die Voraussetzung dafür ist aber, dass wir die Rettungspakete restriktiv gestalten. Denn wenn wir unsere Bonität gänzlich verschenken, fließt das Sparkapital wieder ab, die Peripherie feiert wieder Party, und Deutschland kehrt in die Flaute zurück. VITA Ökonom Hans-Werner Sinn steht seit 1999 an der Spitze des Münchener Ifo-Institutes. Der 62-Jährige, der als einer der international anerkanntesten Ökonomen Deutschlands gilt, erforscht finanzwissenschaftliche und konjunkturtheoretische Fragen ebenso wie umweltökonomische und weitere Themen. Agendasetter Anders als viele forschungsstarke Volkswirte schreckt Sinn nicht davor zurück, sich in tagespolitische Debatten einzumischen. Im Gegenteil: "Kaltstart", eine Analyse der deutschen Vereinigung und "Kasino-Kapitalismus", eine Untersuchung der Finanzkrise, sind nur zwei von vielen Beispielen.