In den 90er-Jahren hat sich Hans-Werner Sinn für die Einführung des Euro stark gemacht. Doch die aktuelle Entwicklung der Währungsunion sieht der Präsident des Münchner Instituts für Wirtschaftsforschung (Ifo) sehr kritisch.
Die Welt: Herr Sinn, die Finanzmärkte haben die Beschlüsse des Krisengipfels wohlwollend aufgenommen. Was halten Sie davon?
Hans-Werner Sinn: Je wohlwollender die Finanzmärkte die Beschlüsse aufnehmen, desto mehr Sorgen müssen sich die deutschen Steuerzahler und Rentner machen. Das Geld, über das sich die Gläubiger der Schuldenstaaten freuen, wird ihnen mit genau der Wahrscheinlichkeit weggenommen werden, mit der es den Finanzanlegern zufließt, denn leider hilft der liebe Gott hier nicht mit Zuschüssen aus. Müssten Steuerzahler und Rentner jetzt schon verzichten und nicht erst später, wenn die neuen Garantien und Staatsschulden fällig werden, würden sie das alles nicht akzeptieren.
Wird mit den Beschlüssen die Transferunion zementiert?
Die Beschlüsse machen den Weg dahin noch wahrscheinlicher, denn der Luxemburger Fonds soll ja nun sogar die Altbestände der Staatsschulden von Ländern aufkaufen können, die gar keinen Sparauflagen besonderer Art unterworfen werden. Auch der Internationale Währungsfonds muss nun nicht mehr beteiligt werden, und außerdem verzichtet der Luxemburger Fonds darauf, im Rang vor den privaten Gläubigern zu stehen. Deutschland hat seine wichtigsten Positionen im europäischen Verteilungsstreit aufgegeben und sich mit einer Sozialisierung der Haftung für die Staatschulden einverstanden erklärt.
Die Banken werden an den Kosten der Rettungsaktion beteiligt. Eine gute Idee?
Wer immer die Frage aufgebracht hat, ob die Banken beteiligt werden sollten, hat eine semantische Meisterleistung vollbracht, denn die Formulierung stellt die Verhältnisse auf den Kopf. In Wahrheit muss die Frage lauten, ob die Steuerzahler und Rentner sich beteiligen sollen, denn es geht hier doch um einen Vertrag zwischen den Banken und den Schuldnerstaaten, der wegen drohender Insolvenz nicht mehr erfüllt werden kann. Die Steuerzahler und die Rentner haben damit eigentlich nichts zu tun. Sie werden aber wie selbstverständlich mit zur Kasse gebeten, indem sie neue Schulden und Garantien in riesigem Umfang akzeptieren müssen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit zu ihren Lasten gehen werden.
Wieso das?
Dass Banken nun im Falle Griechenlands bis zu 80 Prozent des Nennwertes der Staatspapiere erhalten sollen, obwohl diese Papiere an den Märkten kaum mehr als 50 Prozent wert waren, halte ich für nicht vertretbar. Es beruhigt mich auch überhaupt nicht, dass man die Wertsteigerung, die man damit für die Banken erzeugt, als Bankenbeteiligung bezeichnet. Auch das ist bloß eine semantische Umdeutung der Wahrheit. Ich wünschte mir mehr Klarheit und Aufrichtigkeit von den Führern Europas.
Die EZB hatte sich lange gegen eine private Gläubigerbeteiligung gesperrt. Ist sie jetzt eingeknickt?
Die EZB hat faktisch argumentiert, dass die Rentner und Steuerzahler den Banken für ihre Staatspapiere fast das Doppelte dessen bezahlen sollen, was sie wert sind, nämlich den vollen Nennwert. Ich habe diese Position nie verstanden.
Was hätten Sie gemacht?
Ich hätte den Vorschlag der EEAG umgesetzt, eines europäischen Sachverständigenrates mit sieben Ökonomen aus sieben Ländern. Er empfiehlt, dass die Gläubiger der jeweils fälligen Staatsschulden einen Abschlag auf den Nennwert akzeptieren, der dem Marktabschlag entspricht, während die Inhaber der noch nicht fälligen Anleihen still halten müssen. Der Restwert der Anleihen soll sodann innerhalb gewisser Kontingente in Staatsanleihen umgetauscht werden, die zu 80 Prozent von der Staatengemeinschaft besichert sind.
Was würde das bringen?
Das hätte den Vorteil, dass man nicht unnötig Lasten für Schulden übernimmt, die noch gar nicht fällig sind und dass das betroffene Land einen Anreiz behält, durch eigene Anstrengung wieder solvent zu werden. Macht man nur einen einzigen großen Schuldenschnitt, kann die übermäßige Verschuldung ja gleich wieder von neuem beginnen.
Ist Griechenland mit der nun beschlossenen Umschuldung aus dem Schneider?
Nein. Man kauft nur Zeit. Das Hauptproblem ist die fehlende Wettbewerbsfähigkeit Griechenlands. Das Land ist durch die Inflation, die der billige Kredit in den ersten Jahren des Euro induziert hat, schlichtweg zu teuer geworden. Es muss um circa 20 bis 30 Prozent abwerten, also billiger werden, damit seine Importe so weit fallen und die Exporte so weit steigen, dass eine Selbstversorgung wieder möglich wird.
Wie soll das geschehen?
Das kann innerhalb des Euro durch Kürzung der Löhne und Preise geschehen, und es kann durch Austritt aus dem Euro und offene Abwertung geschehen. Die innere Abwertung würde das Land freilich an den Rand des Bürgerkriegs führen wie Deutschland von 1929 bis 1933. Damals fielen die deutschen Preise um 23 Prozent. Diesen Weg sollte man Griechenland ersparen. Faktisch kriegt man die nötige Abwertung nur durch einen Austritt hin. Dann muss man nämlich nicht Millionen von Preisen senken, sondern nur einen einzigen: den Wechselkurs.
Wachsen dann nicht aber die Staatsschulden relativ zur Wirtschaftsleistung ins Unermessliche?
Das ist bei der inneren Abwertung das Gleiche. Hier gibt es keinen Unterschied. Der Vorteil der äußeren Abwertung ist aber, dass die Schulden der Firmen bei griechischen Banken mit abgewertet werden, während sie bei einer inneren Abwertung durch Kürzung von Preisen und Löhnen aufrecht erhalten bleiben und damit für die Firmen erdrückend werden.
Also raten Sie Griechenland, die Euro-Zone zu verlassen?
Unter allen Optionen, die Griechenland hat, ist ein Austritt das kleinere Übel. Die Entscheidung liegt aber allein bei den Griechen.
Aber bei einem Austritt würde Griechenland eine Katastrophe drohen, Investoren könnten einem Euro-Land nach dem anderen das Vertrauen entziehen, und am Ende müsste der Steuerzahler Banken retten.
Die humanitäre Katastrophe ist viel wahrscheinlicher, wenn man Griechenland zwingt, durch Preis- und Lohnkürzung wettbewerbsfähig zu werden. Das bedeutet zehn Jahre Siechtum und Massenarbeitslosigkeit, wenn nicht Schlimmeres. Und die Banken sind so oder so pleite, wie es auch der griechische Staat schon ist. Es ist gut, dass die EU-Länder beschlossen haben, die Mittel des Luxemburger Fonds auch für die Stützung der Banken einzusetzen. Glauben Sie mir, Austritt und Abwertung ist die glimpflichere Alternative für alle Beteiligten. Es gibt ein kurzes Gewitter, und nach einem halben Jahr scheint wieder die Sonne. Wir können die Zahlungsbilanzdefizite der peripheren Länder nicht dauerhaft finanzieren.
Was meinen Sie damit?
Seit 2008 haben Griechenland, Irland, Spanien und Portugal riesige Zahlungsbilanzdefizite. Die EZB hat diese Defizite vollständig mit der Druckerpresse finanziert. Nur deswegen kann Griechenland weiterhin über seine Verhältnisse leben.
Sie spielen auf Ihre Kritik am sogenannten Target-II-System der EZB an. Ohne auf die technischen Details einzugehen - Sie haben aus der Wissenschaft auch Kritik für die These einstecken müssen, dass dort ein heimlicher Kredittransfer stattfindet.
Von unabhängigen Wissenschaftlern nicht. Die Kritiker kannten die Daten, die das Ifo-Institut gerade erst zusammenhängend veröffentlicht hat, noch gar nicht, hatten aber schon eine Meinung. Der Sachverhalt ist folgender. Seit 2008 haben sich die Kapitalmärkte geweigert, die Außenhandelsdefizite der Krisenländer weiter zu finanzieren. Zum Teil ist das Kapital sogar geflohen. Daraufhin haben die Notenbanken dieser Länder immer mehr Euros neu geschaffen und an ihre Banken verliehen, um die Defizite zu finanzieren, in den letzten drei Jahren über 300 Milliarden Euro.
Und was hat das mit einem Kredittransfer zu tun?
Das Geld floss nach Deutschland und hat hier das kreditgeschöpfte Zentralbankgeld verdrängt. Die Verlagerung der Refinanzierungskredite von Deutschland in die Krisenländer war ein Kapitalexport Deutschlands in diese Länder, übrigens der Löwenanteil des gesamten deutschen Kapitalexports in den letzten drei Jahren, wie er in der Zahlungsbilanzstatistik gemessen wird. Das kann man nicht bestreiten. Obwohl die Zahlen der offiziellen Statistik entstammen, war der Vorgang der Öffentlichkeit und auch vielen Insidern nicht bekannt.
Sie bekommen für Ihre Positionen zum Euro viel Gegenwind. Haben Sie den Eindruck, dem Euro zu dienen, oder schaufeln Sie gerade an seinem Grab mit?
Ich hoffe, ich diene dem deutschen Volk, indem ich auf die Gefahren hinweise, die aus den Rettungspaketen entstehen. Das ist meine Pflicht. Uns Ökonomen wurde doch zuletzt vorgeworfen, nicht vor der Finanzkrise gewarnt zu haben. Jetzt warne ich vor der Überforderung des deutschen Staates durch die Rettungspakete, und dann ist es auch falsch. Ich befürworte den Euro, aber er darf nicht zum Götzen werden, sondern muss ein nützliches Vehikel für die europäische Integration bleiben. Nur: Wenn etwas die finanzielle Stabilität der Euro-Zone gefährdet, dann sind es die neuen Programme zu einem Schuldensozialismus in Europa, denn wir schaffen die Möglichkeit für neue Ansteckungswege über die Staatsbudgets. Wenn Sie schon die Metapher mit dem Grab für den Euro bemühen wollen, dann wird es hier gegraben.
Das Gespräch führte Martin Greive