Ifo-Chef Sinn über Schuldenschnitt für Griechenland und Kapitalflucht aus Italien
Auch nach den Beschlüssen des Euro-Gipfels hat die Schuldenkrise nach Einschätzung von Hans-Werner Sinn, Chef des Ifo-Instituts, ihren Höhepunkt noch lange nicht erreicht: Er befürchtet, dass nach Griechenland nun Italien seine Probleme nicht in den Griff bekommt - und das mit weitaus schlimmeren Folgen.
DIE WELT: Herr Professor Sinn, bedeutet der Schuldenschnitt, dass Griechenland jetzt pleite ist?
Hans-Werner Sinn: Ja. Mit dem Schuldenschnitt wird nun offiziell anerkannt, dass Griechenland zahlungsunfähig ist. Ein richtiger Schritt?
Ja, er war überfällig. Die Banken lernen nun endlich, dass Staatspapiere riskant sind. Sie werden sich in Zukunft hoffentlich vorsehen, bevor sie im großen Stil an andere Länder Geld verleihen. Wenn sie es zu Hause verleihen, werden bei uns Häuser und Fabriken gebaut, statt dass der Konsum anderer Länder finanziert wird.
Reicht der Schuldenschnitt von 50 Prozent?
Nein. Mit dem Schuldenschnitt gelangen wir in Bezug auf die Höhe der Staatsverschuldung an den Punkt zurück, an dem die Griechenlandkrise angefangen hat. Es geht also wieder von vorne los. Das Hauptproblem ist, dass Griechenland nicht wettbewerbsfähig ist. Das Land ist bei den selbst erstellten Waren doppelt so teuer, wie es sein dürfte, wenn man es mit der Türkei vergleicht. Griechenland müsste jetzt aus dem Euro austreten und seine Wettbewerbsfähigkeit über eine Abwertung verbessern. Außerdem kann es nicht sein, dass man ein Land, das seine Schulden nicht zurückzahlt, im Euro-Raum lässt. So wie man jetzt den Staatsbankrott akzeptiert hat, wird man irgendwann auch den Austritt akzeptieren, weil dies die einzige Möglichkeit ist, dass Griechenland wieder auf die Beine kommen kann.
Wird Italien seine Schulden vollständig bedienen können?
Italien ist ein großes Problem. Das Land ist gegenüber Deutschland seit 1995 um die Hälfte teurer geworden. Und die Staatsverschuldung ist übermäßig hoch. Seit dem Sommer gibt es eine riesige Kapitalflucht aus Italien, die atemberaubend ist. Die vermögenden Italiener verkaufen ihre Staatspapiere an die Banka dItalia, die sie mit neu gedrucktem Geld kauft, und machen sich aus dem Staub, nach Deutschland oder in die Schweiz.
Immerhin hat Italiens Regierung jetzt Rentenreformen angekündigt.
Das hilft, die Schulden zu senken, aber macht das Land noch nicht wettbewerbsfähig. Italien muss durch eine jahrelange Phase der wirtschaftlichen Flaute gehen, in der es langsamer inflationiert als Deutschland und andere europäische Länder und relativ wieder billiger wird. Wir Deutschen haben eine solche lange Flaute nach der Ankündigung und Einführung des Euro auch gehabt. Sie ging erst nach der Wirtschaftskrise zu Ende. Die Gefahr, dass es Italien nicht schafft, ist groß.
Kann man Rom so stützen, wie man Athen seit eineinhalb Jahren hilft?
Nur um den Preis einer Destabilisierung Frankreichs und Deutschlands. Man hat nun zwar mit dem erweiterten Rettungsfonds, der Kredite von über einer Billion versichern soll, die Möglichkeit, die italienischen Zinsen zu subventionieren. Aber das wird für uns sehr, sehr teuer, und außerdem wird mit dieser Politik der Reformdruck auf Italien verringert. Das Ganze ist äußerst riskant. Denn durch den Hebel steigt das Risiko, dass die 780 Milliarden Euro des Rettungsfonds am Ende verlorenes Geld sind. Auf Deutschland kommen zunächst zwar nur maximal 253 Milliarden zu, aber dabei wird es nicht bleiben, denn wir hängen ja nun drin und können uns später gegen eine Aufstockung des Fonds nicht mehr wehren. Diese Maßnahmen sind außerhalb jeglicher vernünftiger Proportion und bedeuten unwägbare Lasten für den hiesigen Steuerzahler. Der Bundestag hat sich da in ein Wagnis hineingeredet, das er gar nicht überblickt.
Löst der Rettungsfonds irgendwelche Probleme?
Er verlagert sie. Natürlich freuen sich die Kapitalanleger, weil sie jetzt einen Käufer für die Staatspapiere gefunden haben, die sie selbst als zu heiß empfinden. Das Problem haben nun aber die deutschen Steuerzahler und Rentner, weil sie an ihre Stelle treten. Die Politik sagt, sie hat sich Zeit gekauft. In Wahrheit hat sie Zeit verloren, weil die Außenhandelsdefizite, oder genauer die Leistungsbilanzdefizite der Krisenländer, derzeit etwa 120 Milliarden Euro pro Jahr, immer weiter finanziert werden müssen. Die Auslandsschulden der Länder wachsen Jahr um Jahr um diesen Betrag. Die Retterei führt dazu, die Preise und Löhne in diesen Ländern auf dem überhöhten Niveau zu halten, das sie heute haben. Das ist das Kernproblem. Wir füllen ein Fass ohne Boden und unterminieren die Anstrengungen, ihm einen Boden einzubauen. Die fehlende Wettbewerbsfähigkeit wird perpetuiert, und die private Kapitalflucht wird weiter angereizt. Das private Kapital kehrt erst dann in die Länder zurück und schafft dort Arbeitsplätze, wenn die Preise der Vermögensgüter gefallen sind. Hält man sie durch öffentliche Geldflüsse aufrecht, kommt es nie. Mit dem vielen Geld hält man bestenfalls die Staaten über Wasser. Sonst passiert nichts. Hierzulande fehlt der Kredit für die Schaffung von Arbeitsplätzen, und dort werden staatliche Transfersystem alimentiert. So kann man keine wettbewerbsfähige Wirtschaft in Europa schaffen.
Wie steht es um Portugal?
In Portugal ist die Lage nicht viel besser als in Griechenland. Auch das Land hat eine riesige Auslandsverschuldung. Der Konsum übersteigt das Nationaleinkommen um 14 Prozent. Im Zuge der Hebelei wird man bis auf Weiteres auch Portugal weiter finanzieren. Das Land gehört mit zu denen, die auf Dauertransfers angewiesen bleiben.
Wird die Europäische Zentralbank ihre Anleihekäufe jetzt stoppen?
Das muss sich erst noch zeigen. Die Franzosen drängen weiter, dass die EZB Anleihen von Krisenstaaten kauft. Der Bundestag hat aber die Einstellung dieser Maßnahme verlangt, nachdem der Bundespräsident die EZB bezichtigt hat, den Maastrichter Vertrag zu umgehen und die beiden deutschen Repräsentanten im Zentralbankrat aus Protest zurückgetreten sind. Sollte die Europäische Zentralbank dennoch weiterhin die Papiere kaufen, müsste die Bundesregierung die EZB vor dem Europäischen Gerichtshof verklagen. Dieser Showdown zwischen Frankreich und Deutschland ist noch keineswegs entschieden.
Was raten Sie der Politik?
Ich halte diese exzessive Retterei für falsch. Griechenland und Portugal werden schon seit dem Herbst des Jahres 2007 mit der Gelddruckmaschine finanziert. Die Außenhandelsdefizite wurden vollständig mit frisch gedrucktem Geld finanziert, weil per Saldo keinerlei privates Kapital mehr in diese Länder floss. Wenn wir die Krisenländer jetzt dauerfinanzieren, wird es nie zu einer Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit kommen. Bei Griechenland hilft nur der Austritt. Bei Portugal wahrscheinlich auch. Und bei Italien können wir alle nur hoffen, dass das Land es im Euro schafft.
Werden die Gipfel-Beschlüsse die Märkte beruhigen?
Für eine Weile sicher. Denn die Maßnahmen helfen Anlegern und den betroffenen Ländern. Damit hat die Krise ihre Schrecken für die Besitzer südeuropäischer Anlegen verloren. Doch was die Märkte beruhigt, muss die Steuerzahler, die Rentner und die Hartz-IV-Empfänger in Deutschland beunruhigen. Für sie fängt die Krise jetzt erst an, schrecklich zu werden. Denn sie übernehmen nun die Risiken, die zuvor die Anleger getragen haben. Damit findet eine Umverteilung statt: von den Vermögensbesitzern, die ihr Geld in griechischen und italienischen Papieren angelegt haben, zur Bevölkerung in den Retterstaaten.
Droht angesichts der Schulden und gigantischen Rettungsaktionen Inflation?
Die neuen Rettungsaktionen der Staatengemeinschaft schaffen keine Inflationsgefahr. Solche Gefahren drohen aber wegen der Rettungsaktionen der EZB, denn die EZB hat ihre Möglichkeiten, die viele Liquidität, die sie in den Krisenländern geschaffen hat, in den europäischen Kernländern wieder einzusammeln, inzwischen ausgeschöpft. Der Bestand an Krediten, den die Bundesbank an die Geschäftbanken gibt, ist im September negativ geworden. Die Bundesbank ist zum Schuldner des deutschen Bankensystems geworden, und die Banken können ihre Forderungen gegen die Bundesbank jederzeit wieder in Geld umwandeln, wenn sie es möchten. Wenn das passiert, kann man eine Inflation nicht mehr stoppen. Da ich vermute, dass die EZB den Südländern weiterhin mit der Druckerpresse helfen wird, sind wir nun wohl in einem inflationären Regime angekommen. Aber das ist keine Aussage, die sich auf das nächste oder übernächste Jahr bezieht, sondern auf die mittlere Frist nach der Überwindung der konjunkturellen Flaute, die gerade begonnen hat.
Wie lange wird uns die Krise noch fest im Griff haben?
In der nächsten Generation wird sich die Frage stellen, wie lange es dann noch dauert. Denn wir reden hier über Lasten, die die Abgeordneten des Bundestags unseren Kindern und Kindeskindern aufgebürdet haben. Sie werden die Lasten der Krise neben den Lasten einer alternden Gesellschaft zu tragen haben. Um die Zukunft unserer Kinder mache ich mir große Sorgen.
Das Gespräch führte Dorothea Siems