Der Chef des ifo-Instituts Hans Werner Sinn traut der deutschen Wirtschaft in den kommenden Jahren wenig zu. Er fordert deshalb einschneidende Reformen auf dem Arbeitsmarkt und für den Sozialstaat.
Richtig optimistisch ist Hans Werner Sinn nicht. "Ein nachhaltiger Aufschwung ist nicht sicher", sagt der Volkswirt, dessen ifo-Institut gerade zusammen mit den fünf anderen führenden Wirtschaftsforschungseinrichtungen das Herbstgutachten zur deutschen Konjunktur vorgelegt hat. Darin wird ein Wachstum von 1,7 Prozent im nächsten Jahr vorhergesagt. Sinn warnt jedoch: Die Unsicherheiten seien noch groß.
BÖRSE ONLINE: Herr Professor Sinn, was macht Sie so vorsichtig?
HANS WERNER SINN: Die Tatsache, dass die harten Signale für einen Aufschwung noch spärlich sind. Die Lage-Einschätzung der Wirtschaft ist noch im Keller. Nur die Erwartungen stehen auf hohem Niveau. Außerdem gibt es Risiken: Sinkt der Dollarkurs noch weiter, bekommen wir ernsthafte Schwierigkeiten. Auch ein weiteres Anziehen des Ölpreises kann die Weltkonjunktur kaputt machen.
BÖRSE ONLINE: Wo sollen also die Impulse für eine Erholung herkommen?
SINN: Vor allem aus den USA. Immerhin ist der amerikanische Budgetsaldo deutlich von einem Plus ins Minus gerutscht. Das stellt einen gewaltigen Impuls für die Konjunktur dar. Das Strohfeuer, das dort zurzeit angezündet wird, wird seine Wirkung auf die Weltwirtschaft entfalten. Und auch wir werden davon profitieren.
BÖRSE ONLINE: Sprechen Sie von Strohfeuer, weil Sie nicht an einen nachhaltigen Aufschwung in den USA glauben?
SINN: Auch ein richtiges Feuer entfacht man, indem man zunächst Stroh entzündet. Es kann also auch ein nachhaltiger Aufschwung daraus werden.
BÖRSE ONLINE: Ein deutsches Strohfeuer wäre das Vorziehen der Steuerreform auf 2004. Hilft das der Konjunktur?
SINN: Nachdem man das angekündigt hat, muss man es auch machen. Und die Opposition sollte es mittragen. Allerdings sollte sie bei der Schuldenfinanzierung ihr Veto einlegen. Dann gibt es zwar kein Strohfeuer, aber wir verhindern die weitere Belastung künftiger Generationen.
BÖRSE ONLINE: Die Union will höchstens 25 Prozent der Entlastung über Kredite finanzieren. Ein sinnvoller Vorschlag?
SINN: Nein. Nach heutiger Schätzung hegen wir beim Staatsdefizit in diesem Jahr um 1,2 Prozentpunkte und im nächsten Jahr um mindestens einen halben Prozentpunkt über der Grenze des Europäischen Stabilitätspaktes. Wir dürfen uns also gar nicht höher verschulden.
BÖRSE ONLINE: Ist der Pakt angesichts dieser Verstöße noch ernst zu nehmen?
SINN: Er wird immer weniger ernst genommen. Das ist sehr bedauerlich.
BÖRSE ONLINE: Man sollte also weiterhin streng daran festhalten?
SINN: Sicher Welchen Schutz haben denn künftige Generationen sonst noch gegen den Missbrauch der Staatsfinanzen durch gegenwärtige Regierungen? Wir haben seit Anfang der siebziger Jahre die Staatsschuld von 20 auf gut 60 Prozent des Bruttoinlandsproduktes ausgedehnt. Die Zinsen darauf sind heute schon höher als die erlaubte Nettoneuverschuldung. Die Lasten auf die wenigen Kinder abzuwälzen, die die Deutschen noch haben werden, wäre verantwortungslos. Zumal die Investoren das bemerken und mit Vertrauensentzug reagieren werden.
BÖRSE ONLINE: Weisen die Reformansätze der Regierung einen Ausweg?
SINN: Nur zum Teil. So bleibt etwa der ganze Bereich des Tarifrechts unangetastet. Und die wichtigste Reform - die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe - hat die SPD-Linke verwässert. Jetzt gilt der ortsübliche Vergleichslohn als Mindestlohn bei der Arbeitsaufnahme. Arbeitslosigkeit im Niedriglohnbereich lässt sich so nicht beseitigen.
BÖRSE ONLINE:In Ihrem neuen Buch schlagen Sie zum Teil drastische Reformen vor. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit für deren Umsetzung?
SINN: Für die Reform der Sozialhilfe sehe ich gute Chancen. Der ifo-Vorschlag zur aktivierenden Sozialhilfe ist zu einem Beschluss des Bundesrats geworden. Sollte er im Vermittlungsausschuss durchgehen, wäre bereits ein Kapitel meines Buchs auf dem besten Weg, Realität zu werden.
BÖRSE ONLINE: Themenwechsel: Am 1. November hat Jean-Claude Trichet Wim Duisenberg an der Spitze der Europäischen Zentralbank abgelöst. Erwarten Sie dadurch Änderungen in der Geldpolitik?
SINN: Nein. Trichet hat sich in der Geldpolitik stets ähnlich geäußert wie Duisenberg. Er ist genauso konservativ. Außerdem macht das Direktorium der EZB die Politik - und bleibt gleich.
BÖRSE ONLINE: Würden Sie etwas ändern?
SINN: Im Moment nicht. In der Vergangenheit hätte Deutschland niedrigere Zinsen gebraucht. Das lag aber daran, dass die Flaute bei uns eher begann als anderswo. Mittlerweile gibt es schon wieder Stimmen, die höhere Zinsen fordern. Das halte ich für falsch. Die Zinsen sollten auf dem jetzigen Niveau bleiben, bis der Aufschwung sich wirklich zeigt.
BÖRSE ONLINE: Was ist von Deutschland beim Wachstum in Zukunft zu erwarten?
SINN: Wenig. Dagegen sprechen zu viele Fundamentaldaten. Die Schaffung des europäischen Binnenmarkts hat den kleinen Ländern den Nachteil ihrer kleinen Märkte genommen. Massenproduktion findet heute überall in Europa statt. Der Euro hat den deutschen Firmen den Vorteil der im internationalen Vergleich extrem niedrigen Zinsen geraubt. Und: Die Osterweiterung setzt uns einer extremen Niedriglohnkonkurrenz aus. Das alles sind Dinge, die den Standort Deutschland ganz gewaltig belasten.
BÖRSE ONLINE: Um Ihren Buchtitel zu zitieren: Ist Deutschland noch zu retten?
SINN: Ja, wenn wir uns dem Wettbewerb stellen und bereit sind, Arbeit billiger anzubieten. Man kann nur so viel teurer sein, wie man besser ist. Ob wir noch besser als die anderen sind, ist offen. Auf jeden Fall sind wir teurer. Deswegen ziehen deutsche Firmen nach Osteuropa und beliefern die Welt mit Waren, die sie dort billig produzieren. Deutschland ist auf dem Weg zu einer Basar-Ökonomie. Wir produzieren einen immer kleineren Teil unseres Exportes selbst. Die Folge ist Arbeitslosigkeit. Nur wenn wir das Tarifrecht so ändern, dass Arbeit billiger wird, und den Sozialstaat so reformieren, dass er nicht länger als Konkurrent der Unternehmen auf dem Arbeitsmarkt auftritt, kriegen wir die Kurve.
INTERVIEW:
L. HEINZ/A. JALSOVEC
Retter in der deutschen Not Mit seinen Ideen will Hans Werner Sinn 50 Jahre Filz überwinden. Mutlos, marode, der kranke Mann Europas - wenn Hans Werner Sinn den Zustand der deutschen Wirtschaft beschreibt, greift er auf drastische Bilder zurück. Und eigentlich, so könnte man nach den ersten Seiten in seinem neuen Buch meinen, ist Deutschland gar nicht mehr zu retten. Der Ökonom probiert es dann doch - mit einer "ähnlich radikalen Kulturrevolution, wie England sie unter Margaret Thatcher erlebt hat". Sein "6+1-Programm für den Neuanfang" soll die deutschen Krankheiten heilen. Kernthese dabei: Deutschlands Hauptproblem sind die Lohnkosten. Weil sie zu hoch sind, fällt das Land im internationalen Wettbewerb zurück. Das sorgt für hohe Arbeitslosigkeit und treibt die Sozialsysteme in die Krise. Sinn fordert deshalb längere Arbeitszeiten, flexiblere Tarifverträge und die Abschaffung des Kündigungsschutzes für neue Arbeitsverträge, um international wieder mithalten zu können. Darüber hinaus will er den Sozialstaat deutlich abspecken. Erwerbsfähigen, die nicht arbeiten, wird die Sozialhilfe um ein Drittel gekürzt. Zuwanderer sollen erst nach einigen Jahren Aufenthalt am Sozialsystem teilhaben dürfen. Ergänzt wird sein Reformprogramm schließlich durch eine radikale Steuerreform und eine grundlegende Umgestaltung des Rentensystems. |