"Reformen können nicht länger warten"

Interview mit Hans-Werner Sinn, Bayernkurier, 23.01.2003, 13

IFO-PRÄSIDENT HANS-WERNER SINN:

Er ist, glaubt man dem Vorsitzenden der "Fünf Weisen", Wolfgang Wiegard, der politisch einflussreichste Volkswirt Deutschlands: Hans-Werner Sinn. Der Präsident des Münchner Ifo-Institutes und Professor für Nationalökonomie an der Universität München äußerte sich im Gespräch mit Franz Niedermaier zur konjunkturellen Entwicklung, der EU-Osterweiterung und einer EU-Mitgliedschaft der Türkei.

Bayernkurier: Nach all den Debatten in den vergangenen Monaten: Ist Deutschland wirklich ein Sanierungsfall?

Hans-Werner Sinn: Ja, das ist wohl so, aber nicht erst seit Kurzem. Es hat sich sehr vieles aufgestaut, was nur mit grundlegenden Reformen wieder berichtigt werden könnte.

Bayernkurier: Ist das Argument der Bundesregierung berechtigt, dass die Lage schlecht geredet wird, ansonsten aber alles im Lot sei?

Sinn: Richtig ist, dass die öffentliche Meinung und die Konjunktur sich in Wellen bewegen. Wir haben jetzt eine Lage, die als schlimm empfunden wird. Wenn der nächste Aufschwung kommt, ist wieder vieles vergessen. Unabhängig davon ist die Lage aber wirklich problematisch, weil die langfristige Entwicklung in Deutschland alles andere als befriedigend ist. Wir haben bekanntlich ein niedrigeres Wachstum als die anderen europäischen Länder. Wir sind beim Pro-Kopf-Einkommen bereits von England überholt worden, und Frankreich ist gerade dabei, uns zu überholen. Auch viele kleinere Länder wie Österreich, Holland, Finnland oder Irland sind uns bereits voraus.

Bayernkurier: Hat unsere Konjunktur die Talsohle schon durchschritten?

Sinn: Nein. Wir vermuten, dass die Talsohle noch vor uns liegt. Wenn es eine Stabilisierung und einen leichten Aufschwung gibt, so kommt er in der zweiten Jahreshälfte.

Bayernkurier: Mit wie vielen Arbeitslosen rechnen Sie in diesem Jahr?

Sinn: Mit über 4,2 Millionen. Jetzt im Januar und Februar werden wir sogar über 4,5 Millionen Arbeitslose haben.

Bayernkurier: Und es ist noch kein Licht am Ende des Tunnels?

Sinn: Die Aufschwungkräfte sind noch nicht sichtbar. Man kann erwarten, dass die nachfragestimulierenden Maßnahmen, die die US-Regierung jetzt beschlossen hat, sich positiv auswirken, dass auch in Deutschland die Investitionen wieder anziehen und es in der zweiten Jahreshälfte einen langsamen, schleppenden Aufschwung geben wird.

Bayernkurier: Ist die Arbeitsplatzmisere in unserem Land wirklich auf die lahmende Weltkonjunktur zurückzuführen?

Sinn: Nach Meinung der OECD nur zu 15 Prozent. Zu 85 Prozent sind die Gründe hausgemacht. Wir haben zu lange keine wesentlichen Reformen gemacht und haben es versäumt, grundlegende Reformen des Tarifrechts und der Regulierungssysteme anzugehen. Jetzt kann man aber nicht mehr länger warten.

Bayernkurier: Hilft uns ein Aufschwung der US-Wirtschaft nachhaltig weiter?

Sinn: Der hilft uns zwar, aber er wirkt nur über den Export. Dagegen steht die Aufwertung des Euro, sodass zwar ein Nachfrageschub durch US-Exporte zu erwarten ist, seine Auswirkungen aber begrenzt sein werden.

Bayernkurier: Kann das jüngst von Präsident Bush angekündigte Konjunkturprogramm die Weltwirtschaft entscheidend ankurbeln?

Sinn: Es wird auf jeden Fall die US-Konjunktur entscheidend anregen. Wir reden hier schließlich über ein zusätzliches Budgetdefizit von 80 Milliarden Dollar oder 0,8 Prozent des amerikanischen Sozialprodukts. Das ist schon erheblich. Wenn die Amerikaner daraufhin ein Prozent mehr Wachstum haben, dann bleibt auch für den Rest der Welt etwas davon übrig.

Bayernkurier: Wäre dieses Programm auch ein Modell für Deutschland?

Sinn: Nein. Wir können keine Konjunkturpolitik mehr machen, weil wir an der Maastricht-Grenze hängen. Wir können keine Steuern senken, ohne die Ausgabenseite zugleich zu senken. Damit ist der konjunkturbelebende Effekt nicht mehr gegeben. Allerdings verbliebe ein langfristig günstiger Struktureffekt, der das Wachstum erhöhen würde.

Bayernkurier: Welche Auswirkungen brächte ein Krieg im Irak für die Weltwirtschaft und Deutschland?

Sinn: Er würde sich, gemessen an der heutigen Lage, eher positiv auswirken, denn die Lähmung der privaten Investitionen besteht vor allem im Vorfeld des Krieges. Sobald das Ende des Krieges absehbar ist, erholen sich die Börsen wieder, und ein Aufschwung ist möglich. Bitte interpretieren Sie mich aber nicht so, dass ich den Krieg will. Die Sicherheit, dass der Krieg nicht stattfindet, wäre noch besser für die Konjunktur, und im Übrigen geht es bei dieser Frage ja um ganz andere Aspekte.

Bayernkurier: Ist bei einem Irak-Krieg in Verbindung mit einer anhaltenden Krise in Venezuela eine Verknappung des Erdöls zu rechnen?

Sinn: Die Gefahr besteht, und sie wird ja von den Märkten berücksichtigt. Das ist ein wesentlicher Grund, für die schlechte Konjunktur in der Welt. Ein kurzer, schneller Krieg würde die Ölversorgung stabilisieren, und dann würde die Konjunktur auch wieder anziehen.

Bayernkurier: Zurück zu Deutschland: Wenn der Anteil der Konjunktur an den Problemen in Deutschland so gering ist, liegt es wohl an strukturellen Faktoren...

Sinn: ...wie etwa dem Arbeitsmarkt. Wir haben hier ein fragwürdiges Flächentarifsystem. Es ist nicht möglich, dass Arbeitnehmer, die die Löhne senken wollen, um ihre Arbeitsplätze zu sichern, dies gegen den Flächentarifvertrag durchsetzen können. Das ist ein Unding. Der Tarifvertrag hat praktisch die Funktion einer Kartellvereinbarung, aus der die Kartellmitglieder nicht ausweichen dürfen. Auch das Günstigkeitsprinzip muss auf den Prüfstand. Stimmt es wirklich, dass immer nur Lohnerhöhungen für den Arbeitnehmer günstig sind? Kann es nicht auch Situationen geben, wo eine Lohnsenkung günstiger ist. weil sie den Konkurs vermeidet und den Arbeitsplatz sichert?

Bayernkurier: Mit wie vielen neuen Arbeitsplätzen rechnen Sie durch die derzeit angepeilte Umsetzung des Hartz-Konzeptes?

Sinn: Durch das Hartz-Konzept würden sehr viele Arbeitsplätze geschaffen werden, wenn es denn finanzierbar wäre. Das ist es aber nicht - deshalb wird das Konzept ja auch nur in kleinen Teilen umgesetzt. Der Teil, der jetzt realisiert werden soll, wird keine oder nur wenig zusätzliche Arbeitsplätze bringen. Die Mini-Jobs zum Beispiel, die unter Hartz subsumiert werden und nichts anderes als eine Ausweitung der alten 630-Mark-Jobs sind, werden dazu führen, dass Leute, die keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld oder -hilfe haben, in Arbeitsplätze hineinkommen. Eine wirkliche Lösung des Problems der Arbeitslosigkeit ist das aber nicht. Vor allem Schüler, Studenten, Rentner und mitarbeitende Ehepartner werden von dieser Mini-Job-Regelung Gebrauch machen. Für Arbeitslose sind diese Jobs nicht attraktiv, weil sie dann ja ihre Unterstützungszahlungen verlieren.

Bayernkurier: Brächte eine Lockerung des Kündigungsschutzes - wie sie Wolfgang Clement vorgeschlagen hat - eine spürbare Verbesserung auf dem Arbeitsmarkt?

Sinn: Clements Vorschlag ist ein mutiger Schritt in die richtige Richtung, aber er reicht wegen der Beschränkung auf Kleinstbetriebe noch lange nicht aus. Größere Betriebe werden dann immer noch keine Leute einstellen, weil sie Angst haben, dass sie jemanden, der seinen Fuß in die Tür gesetzt hat, nie wieder los werden. Es wäre besser, die Kündigungsschutzgesetze in der alten Form nur auf diejenigen anzuwenden, die schon eine bezahlte Beschäftigung haben. Für die nach einem Stichtag neu Eingestellten müssten die Vertragsparteien die Freiheit haben, Zeit- oder Dauerstellen zu vereinbaren. Ich gehe davon aus, dass es viele Unternehmer unter diesen Umständen wieder wagen werden, Neueinstellungen vorzunehmen und dass damit die Sicherheit der Arbeitsplätze steigt statt fällt.

Bayernkurier: Ist die Kritik am jüngsten Tarifabschluss im öffentlichen Dienst berechtigt?

Sinn: Der Abschluss hat insofern negative Auswirkungen, weil der Staat nur einen begrenzten Betrag in der Tasche hat, den er ausgeben kann. Jetzt kann er den Erhöhungen entsprechend weniger neue Leute einstellen.

Bayernkurier: Stellen sich die Gewerkschaften denn ihrer gesellschaftlichen Verantwortung nicht?

Sinn: Die Gewerkschaften sind eines der hauptsächlichen Probleme Arbeitsmarkt, weil sie nur die Interessen derer vertreten, die einen Arbeitsplatz haben und die Arbeitslosen nicht berücksichtigen. Die vertrauen sie dem Sozialstaat an.

Bayernkurier: Schießen die Gewerkschaften mit solch hohen Forderungen wie derzeit Verdi langfristig nicht ein Eigentor?

Sinn: Das tun sie auf jeden Fall. Herr Bsirske hat sicher überzogen. Dass Berlin aus dem Arbeitgeberverband ausgetreten ist, hat er nicht miteinkalkuliert. Er hat den Bogen überspannt, und die Sehne ist gerissen. Mit seinem fehlenden Augenmaß hat er eine ziemliche Blamage erlitten. Das wird der Beginn einer Entwicklung sein, in der möglicherweise viele Arbeitgeber dem Tarifverbund austreten - und dann verliert Herr Bsirske die Macht, die er jetzt hemmungslos ausgespielt hat.

Bayernkurier: Vor den Landtagswahlen hat die Bundesregierung ihr Herz für den Mittelstand entdeckt. Ist es sinnvoll, dass sich die jetzt aufgelegten Programme auf Neugründungen konzentrieren?

Sinn: Der Staat greift hier wieder durch Subventionen in den Markt ein, um die Gründung von Firmen wieder attraktiv zu machen. Es wäre viel besser, Rahmenbedingungen für eine echte Marktwirtschaft herzustellen und die Arbeitsmärkte nicht so zu strangulieren. Niedrigere Löhne, niedrigere Steuern und weniger Regulierung sind die Rezepte für eine Gesundung. Eine Marktwirtschaft einzurichten, ist das Beste, was man für den Mittelstand machen kann.

Bayernkurier: Wie werden sich die Pläne Hans Eichels auswirken, die Verlustrechnung für Betriebe zu beschneiden?

Sinn: Ein junges Unternehmen macht zunächst einmal Verluste. Da müsste es die Möglichkeit haben, die jetzigen Verluste gegen spätere Gewinne zu verrechnen. Ältere, reife Unternehmen brauchen das weniger, weil sie heute schon gewinnträchtige Projekte haben, mit denen sie Verluste verrechnen können. Beschränkt man die Verlustrechnung, dann trifft man genau die Unternehmen, die man im Zuge des Mittelstandsprogramms fördern möchte.

Bayernkurier: Ein großes Zukunftsthema ist weitgehend aus den Schlagzeilen geraten: die EU-Osterweiterung. Haben wir uns angesichts unserer lahmenden Wirtschaft da nicht übernommen?

Sinn: Wir haben dafür in Deutschland noch viel zu tun. Der Arbeitsmarkt ist noch nicht flexibel genug, um die Herausforderungen anzunehmen. Wir werden wohl das in großem Maßstab erleben, was wir in den nördlichen Grenzgebieten Bayerns schon heute beobachten können, nämlich dass die Arbeitslosigkeit durch Zuwanderung und Einpendler steigt. Die Zuwanderung erklärt den Löwenanteil des Zuwachses der Arbeitslosigkeit in Bayern.

Bayernkurier: Sind die Übergangsfristen und Kontingente ausreichend oder überhaupt realistisch?

Sinn: Sie werden das Problem nur temporär verringern. Aber auch nach sieben Jahren werden die Einkommensunterschiede noch zu groß sein. Ich glaube auch nicht, dass Mengenbeschränkungen wirklich eine Lösung sind. Besser wäre es, den Zuwandernden einen Teil der Geschenke des Sozialstaates in den ersten Jahren zu versagen, so dass wir die künstlich durch diese Geschenke motivierte Zuwanderung vermeiden. Hinzu kommt: Je intensiver die Mengenbeschränkungen für die Leute sind, die wandern können, desto größer ist der Anreiz für das Kapital, stattdessen dahin zu gehen, wo die Leute sind. Das, hieße, dass Betriebe in die Länder der EU-Osterweiterung abwandern.

Bayernkurier: Wäre es dann vernünftiger gewesen, die Aufnahme zu verschieben?

Sinn: Nein. Die Konsequenz müsste sein, die Arbeitsmärkte flexibel zu machen. Was wir dringend brauchen, ist die Entwicklung eines flexiblen Niedriglohnsektors. Dazu müssen wir die Sozial- und Arbeitslosenhilfesysteme umändern, so dass es möglich ist, dass die Löhne für einfache Arbeiten sinken und wieder mehr Jobs geschaffen werden, auch für die Zuwanderung. Ansonsten geht die Zuwanderung auf Kosten der Einheimischen. Das muss verhindert werden.

Bayernkurier: Wie stehen Sie zu einer Aufnahme der Türkei als Vollmitglied in die EU?

Sinn: Ich halte es für grundsätzlich falsch, die Türkei in die EU zu integrieren. Die Türkei hat schon jetzt 70 Millionen Menschen, das ist noch mal fast soviel wie die erste Runde der EU-Osterweiterung. Da müssen wir erst einmal sehen, wie wir die in den Griff kriegen.

Bayernkurier: Ist es überhaupt möglich, ein Land, dessen Bevölkerung noch zu über 40 Prozent in der Landwirtschaft arbeitet, in das jetzige Europa zu integrieren?

Sinn: Da müsste man natürlich das System der Landwirtschaftsförderung mit seinen preiserhöhenden Regulierungsmaßnahmen dringend ändern. Das ist nötig und es ist bedauerlich, dass Kanzler Schröder hier eingebrochen ist, weil er sich nach dem Streit mit Amerika nicht auch noch einen Streit mit Frankreich leisten konnte. Es hätte jetzt von deutscher Seite ein Schritt in Richtung Abschaffung und Änderung des Subventionssystems gemacht werden müssen. So zahlen wir riesige Summen Geldes an Frankreich zur Subventionierung der Landwirtschaft.

Bayernkurier: Werden die Aufgaben der Osterweiterung denn unterschätzt?

Sinn: Sie werden in einem ähnlichen Ausmaß unterschätzt wie seinerzeit die Probleme der deutschen Wiedervereinigung. Aber noch einmal: Die Osterweiterung ist notwendig. Nur die Erweiterung um die Türkei ist verfehlt, denn in diesem Fall kämen noch Sonderprobleme hinzu, die mit den großen ethnischen Unterschieden und dem andersgearteten Kulturkreis zu tun haben. Die Türken werden wenn sie Freizügigkeit genießen, fast alle nach Deutschland kommen wollen, weil hier schon viele Türken sind und entsprechende Netzwerke vorliegen. Auch die Kurden werden nach Deutschland drängen. Da bin ich sehr, sehr skeptisch. Die Probleme, die wir uns damit ins Haus holen, kann eigentlich keiner wollen.

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