Nur tief greifende Strukturreformen in der Wirtschafts- und Sozialpolitik können Deutschlands Probleme lösen, erklärt ifo-Präsident Hans-Werner Sinn im ProFirma-Interview.
Herr Professor Sinn, die rot-grüne Bundesregierung kommt Ihrer schon häufig publizierten Forderung nach und legt Arbeitstosen- und Sozialhilfe zusammen. Stimmt Sie der Reformeifer der Regierung optimistisch?
SINN: Das ifo Institut begrüßt diese Vorschläge, denn sie gehen in die richtige Richtung. Sie gehen aber noch nicht weit genug, denn bereits die Sozialhilfe stellt für die Schaffung neuer Jobs bei gering Qualifizierten eine kaum zu überwindende Schranke auf. Auch die Verbesserung der Hinzuverdienstmöglichkeiten, die belastungsneutral für den Staat aus der Reduktion der Ausgaben für die Arbeitslosenhilfe finanziert werden könnte, reicht noch nicht aus, die notwendigen Anreize herzustellen. Nach Berechnungen des ifo Instituts kann mit einer weitgehenden Beseitigung der Arbeitslosigkeit im Niedriglohnbereich erst gerechnet werden, wenn Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe um mindestens ein Drittel unter das alte Sozialhilfeniveau gesenkt werden und wenn die so freiwerdenden Mittel zur Finanzierung großzügiger Hinzuverdienstmöglichkeiten und zusätzlicher Lohnsteuergutschriften für Geringverdiener verwendet werden.
Der Chef der Bundesanstalt für Arbeit, Florian Gerster, warnt davor, mit der Sozialhilfe einen Grundpfeiler des deutschen Sozialstaats zu beseitigen ...
SINN: Das Grundprinzip der Reform sollte sein, dass der Sozialstaat sukzessive von einem System der Lohnersatzleistungen zu einem System der Lohnergänzungsleistungen umgestaltet wird. Die Devise muss lauten, dass jeder arbeitet, wie er es kann, zu welchem Lohn auch immer das möglich ist. Wenn der Lohn den sozialen Vorstellungen der Gesellschaft nicht entspricht, dann muss der Staat so viel hinzugeben, dass in der Summe aus dem selbst verdienten und dem staatlichen Geld das angestrebte Einkommen erreicht wird. Es ist ineffizient und menschenverachtend, wenn die Hilfe, die die Gemeinschaft zur Verfügung stellt, unter der Bedingung des Nichtstuns gewährt wird, wie es heute in Deutschland der Fall ist und nach den angekündigten Reformen auch weiterhin sein wird. Der Schritt vom passivierenden zum aktivierenden Sozialstaat ist lange überfällig, wurde aber von Gerhard Schröder noch nicht angedeutet.
Im Gegensatz zu seinen Aussagen als Kanzlerkandidat hat sich Edmund Stoiber mittlerweile klar für eine Aufhebung des Kündigungsschutzes in Kleinbetrieben ausgesprochen. Würde diese Maßnahme das Wachstum ankurbeln?
SINN: Die von Ministerpräsident Stoiber vorgeschlagene Ausweitung der Beschäftigungsgrenze für den Kündigungsschutz von 5 auf 20 Mitarbeiter ist ein klarer Schritt, dem der Erfolg nicht versagt bleiben wird. Allerdings wäre es mir noch lieber, wenn man eine generelle Lockerung vereinbaren würde, die für alle Betriebe gilt.
Überrascht es Sie, dass Gerhard Schröder zwar in zentralen Punkten Reformbereitschaft zeigt, aber das Tarifrecht unverändert lassen will?
SINN: Der Kanzler hat an dieser Stelle einen Kotau vor den Gewerkschaften gemacht, deren Macht damit nicht angetastet wird. Es bleibt beim Plädoyer für betriebliche Bündnisse, die es ohnehin schon gibt. Sinnvoller wäre es gewesen, grundsätzlich vorzusehen, dass Flächentarifvereinbarungen auf betrieblicher Ebene verändert werden können, soweit der Arbeitgeber und die Mehrheit der Belegschaft dies will, und zwar möglicherweise auch ohne das Mittun der Gewerkschaften. Hier bleibt er weit hinter den Forderungen seines Sachverständigenrats und der Wissenschaft zurück.
Von den Handwerksverbänden massiv kritisiert wird die Einschränkung des Meisterprivilegs bei Betriebsgründungen.
SINN: Diese Ankündigung Schröders ist mutig, und im Grundsatz begrüßenswert waren die Ankündigungen des Kanzlers zur Erleichterung der Unternehmensgründungen für langjährige Gesellen, die keinen Meisterbrief haben. Beim schwierigen Trade-off zwischen maximalem Wettbewerb und maximaler Qualitätssicherung kommen die angekündigten Maßnahmen dem Optimum näher als der gegenwärtige Zustand.
Wegen der negativen Folgen des Golfkrieges für die Konjunktur will Gerhard Schröder offensichtlich bei der Neuverschuldung die Drei-Prozent-Grenze des europäischen Stabilitätspakts überschreiten. Hatten Sie das für gerechtfertigt?
SINN: Der Pakt sieht die dynamische Interpretation, die dem Kanzler vorschwebt, nicht vor. Insbesondere erlaubt er es nicht, wegen eines Krieges, an dem man gar nicht teilnimmt, die Verschuldung über drei Prozent zu erhöhen. Eine Überschreitung wäre nur für eine Naturkatastrophe möglich, wie es die Flut im vergangenen Jahr war. Wenn der Krieg einen Konjunkturrückgang in Deutschland zur Folge hat, dann ist zwar ebenfalls eine Überschreitung möglich, aber nur, wenn der Rückgang des Sozialprodukts größer ist als 0,75 Prozent - und das auch nur, wenn der Ministerrat zustimmt. Erst bei einer Schrumpfung des Sozialprodukts von mindestens zwei Prozent hat ein Land das uneingeschränkte Recht, sich um mehr als drei Prozent neu zu verschulden. Da Deutschlands Sozialprodukt in diesem Jahr nach den bisher vorliegenden Prognosen nicht schrumpfen wird, bedeutet die Planung der Regierung einen offenen Bruch des Stabilitäts- und Wachstumspakts.
Die Lösung der Probleme Deutschlands kann nicht in Schuldenprogrammen gesucht werden, sondern nur in strukturellen Reformen, die auch eine Rückführung des Staatsanteils bedeuten müssen.
Aus Ihrer Sicht als international renommierter Makroökonom: Wie stark ist der objektive Reformdruck wirklich?
SINN: Deutschland wird zur Zeit sukzessive von einem EU-Land nach dem anderen beim Pro-Kopf-Einkommen überholt. Letztes Jahr hat Frankreich Deutschland überholt, und vor drei Jahren bereits Großbritannien. Auch kleinere Länder wie Finnland, Österreich und Irland sind kürzlich an uns vorbeigezogen. Der Grund für die Schwierigkeiten liegt in dem doppelten Wettbewerb, dem Deutschland ausgesetzt ist: Auf der einen Seite der Wettbewerb der Niedriglohnanbieter aus aller Welt, auf der anderen Seite der Wettbewerb des Sozialstaates, der großzügige Ersatzeinkommen für jene anbietet, die nicht arbeiten. In diesem Wettbewerb wird die deutsche Wirtschaft Schritt für Schritt zerrieben.
Löste vor diesem Hintergrund Schröders Regierungserklärung zu seinen Reformplänen bei Ihnen eher Kritik oder Zustimmung aus?
SINN: Abgesehen von den Ankündigungen zum Stabilitätspakt war es eine mutige Kanzlerrede, die an den Rand dessen ging, was die eigene Partei gerade noch tolerieren konnte.
Das Gespräch führte Peter Steinmüller