INTERVIEW: HANS-WERNER SINN, EINER DER RENOMMIERTESTEN ÖKONOMEN DEUTSCHLANDS, SIEHT SCHWARZ FÜR SEIN LAND - FALLS RADIKALE REFORMEN IM SOZIALSYSTEM AUSBLEIBEN.
Zum Glück, die deutsche Industrie brummt noch: In den ersten drei Monaten dieses Jahres stieg der Export aus Deutschland um vier Prozent - trotz flauer Weltkonjunktur und steigendem Euro-Wechselkurs. Auch im vergangenen Jahr wuchsen die deutschen Ausfuhren gegen den weltweiten Trend um knapp zwei Prozent auf fast 650 Milliarden Euro. Doch wie lange geht das noch gut? Die Lasten an Steuern und Abgaben drücken schwer, die alte Wachstumslokomotive keucht angesichts hoher Löhne und Kündigungsschutz.
Deutschland ist ein Sanierungsfall, resümiert Dr. Hans-Werner Sinn, 55, Professor für Volkswirtschaftslehre in München und Präsident des angesehenen Ifo-Instituts. Die deutsche Wirtschaft werde zerrieben in der Mühle der Niedriglohnanbieter aus aller Welt und dem Wettbewerb des Sozialstaates, der großzügige Ersatzeinkommen für jene anbietet, die nicht arbeiten. Das zeigt sich am Pro-Kopf-Einkommen, wo die Deutschen immer weiter zurückfallen: Letztes Jahr wurde es von Frankreich überholt, auch kleine Länder wie Finnland, Irland und Österreich sind bereits an Deutschland vorbei gezogen. Die einstige Wachstumslokomotive wurde mit 4,7 Millionen Arbeitslosen und einem maroden Sozialsystem zum kranken Mann Europas. Wie es so weit kommen konnte, analysiert Sinn in seinem neuen Buch "Ist Deutschland noch zu retten?", das im Oktober im Econ-Verlag erscheinen wird. ChefINFO befragte den Ökonomen schon vorab.
ChefINFO: Im Oktober erscheint Ihr neues Buch mit dem Titel "Ist Deutschland noch zu retten"? - Ist Deutschland noch zu retten?
SINN: Ja, vielleicht. Wenn wir so weitermachen, nicht. Wenn wir das Land aber total umkrempeln, insbesondere die Macht der Gewerkschaften beschneiden und den Sozialstaat zu einem aktivierenden Staat umbauen, dann schon.
ChefINFO: Schröder hat sein Reformprogramm durchgebracht. Was sagen Sie dazu?
SINN: Er war mutig, wie die parteiinternen Auseinandersetzungen zeigen. Aber der viele Mut, den er für das Wenige, was er vorschlägt, schon braucht, zeigt, dass unser Land vorläufig nicht reformfähig ist. Das zeigen übrigens auch bestimmte Reaktionen aus der CDU, die den Versuch andeuten, Schröder wieder einmal links überholen zu wollen.
ChefiNFO: Österreich hat ähnliche Probleme: Es geht um die Finanzierung der Pensionen, des Gesundheitssystems, der Arbeitslosen. Ist der Sozialstaat am Ende?
SINN: Ja, in seiner alten Interpretation schon. Die Ausgaben sind einfach nicht mehr beherrschbar.
ChefINFO: Streiks in Europa. Kanzler Schröder und die SPD sind im Würgegriff der Gewerkschaften. Sind diese noch zeitgemäß, manche fragen sich: Brauchen wir überhaupt noch Gewerkschaften?
SINN: Die Zeit des Klassenkampfes ist vorbei. Die Gewerkschaften sind aber nicht überflüssig. Die Tariflöhne, die sie aushandeln, sollten eher Lohnleitlinien sein, die auf betrieblicher Ebene unterschritten werden können, wenn Unternehmensleitung und Belegschaft darüber Einvernehmen erzielen.
ChefINFO: Deutschland ist mit Abstand Österreichs wichtigster Exportmarkt, andererseits sind deutsche Urlauber immer noch wichtigster Umsatzbringer für den österreichischen Tourismus. Reißt Deutschland Österreich mit in den Rezessions-Strudel?
SINN: Das sehe ich nicht. Österreich wächst schneller als Deutschland und scheint besser mit der Globalisierung zurecht zu kommen. Es hat neuerdings attraktive Steuern, die doch viel Kapital anziehen.
ChefINFO: Unser Land orientierte sich über Jahrzehnte an der deutschen Wirtschaftspolitik, partizipierte mit am Wirtschaftswunder, der Verflechtungsgrad der beiden Volkswirtschaften ist dementsprechend hoch.
SINN: Das ist sicher ein großer und bleibender Vorteil für beide Länder. Jeder gewinnt beim Handel, Österreich ganz besonders. Daran sollte keiner rütteln.
ChefINFO: Jetzt steht Österreich plötzlich besser da, namhafte deutsche Konzerne denken schon laut über eine Standortverlegung in die Alpenrepublik nach. Was läuft in Österreich besser?
SINN: Österreich ist bei den Löhnen schlichtweg billiger als Deutschland, doch genauso gut. Das ist ein erheblicher Standortvorteil.