Geht es unter Gerhard Schröder noch gerecht zu?

Interview mit Hans-Werner Sinn, Berliner Zeitung 15./16.11.2003, S. 29

Der Chef des Münchner Ifo-Instituts, Hans-Werner Sinn, über Effizienz und Armut, über die Werte der SPD und über des Kanzlers Agenda 2010

Herr Professor Sinn,. die SPD steht vor einem schwierigen Parteitag. Kanzler Schröders Agenda 2010 ist nach dem Geschmack vieler Sozialdemokraten nichts anderes als ein kaltschnäuziges Sozialabbauprogramm. Würden Sie sich zutrauen, die Genossen davon zu überzeugen, dass Schröders Kurs - jedenfalls im Prinzip - richtig ist?

Das traue ich mir deshalb zu, weil ich die Wertvorstellungen der Genossen nachvollziehen kann, wenn nicht sogar teile, und weil ich die Meinungsunterschiede auf die Unkenntnis der wirtschaftlichen Zusammenhänge zurückführe. Wenn ich die Zeit bekäme, beispielsweise für ein paar Seminarstunden, würde ich es mir zutrauen. In kurzen Fernsehsätzen oder in einer Talkshow wäre es wohl kaum zu schaffen.

Lassen Sie uns einige Begriffe klären. Was ist eine "Reform"?

Eine Reform ist eine Änderung der institutionellen Verhältnisse, wie sie in Verordnungen und Gesetzen festgelegt wird.

Das klang sehr nach Seminar. Wir wollten eigentlich wissen: Hat eine Veränderung den Namen "Reform" erst dann verdient, wenn sie für eine Mehrheit der Bevölkerung eine Verbesserung der Lebensverhältnisse mit sich bringt?

Das wäre eine eigenartige Definition des Begriffes, denn er ist ja zunächst einmal wertfrei. Aber ich gebe Ihnen Recht, dass dies die Definition einer "guten Reform" wäre.

Was ist "soziale Gerechtigkeit"?

Soziale Gerechtigkeit gibt allen die gleichen Chancen. Soziale Gerechtigkeit heißt auch, die Einkommen umzuverteilen, also den Reichen zu nehmen und den Armen zu geben, um das Pech im Leben auszugleichen. Allerdings sind der sozialen Gerechtigkeit erhebliche Grenzen gesetzt.

Warum?

Der Versuch, ein Maximum an sozialer Gerechtigkeit zu erreichen, vernichtet den Kuchen, den man verteilen möchte. Gerechtigkeit kann deshalb nicht das einzige Ziel des Wirtschaftens sein. Wenn eine Reform die Wirtschaft wieder in Schwung bringt und wenn sie die breite Masse der Bevölkerung besser stellt, weil sie den Unternehmen einen überproportionalen Gewinnzuwachs ermöglicht und sie zum Investieren veranlasst, dann ist das zwar nicht gerecht, aber dennoch sehr sinnvoll. Gerechtigkeit in Armut haben wir in einem Teil Deutschlands schon einmal ausprobiert. Das war bekanntlich nicht sonderlich befriedigend.

Herrscht in Deutschland noch soziale Gerechtigkeit, wenn Kanzler Schröders Agenda 2010 vollständig umgesetzt wird?

Die soziale Gerechtigkeit wird zurückgenommen zu Gunsten des Leistungsziels. Mittelfristig steht dahinter aber die Absicht, die Einkommen derjenigen, die zunächst verlieren, wieder zu erhöhen. Es sollen ja wieder mehr Menschen in reguläre Arbeitsverhältnisse kommen, und das Wachstum soll gesteigert werden.

Wann sind Menschen in Deutschland "arm" zu nennen?

Sicherlich nicht, wenn - wie es häufig definiert wird - ihr Einkommen unter der Hälfte des durchschnittlichen Lohneinkommens liegt. Armut muss man absolut definieren. In Deutschland gibt es praktisch keine Armut mehr. Die Ärmsten, also diejenigen, die auf Sozialhilfe angewiesen sind, bekommen heute bereits ein Vielfaches dessen, was Durchschnittsbürger in osteuropäischen Ländern verdienen.

Wann ist Ihnen persönlich zuletzt Armut begegnet?

Ich bin selber unter sehr armen Verhältnissen groß geworden. Sie können mir glauben, dass ich sehr genau weiß, wovon ich rede. Heutige Sozialhilfebezieher leben im Vergleich dazu in großem Luxus.

Gerechtigkeit - ist das überhaupt eine Kategorie für Ökonomen?

Das ist keine Kategorie, für die Ökonomen Fachleute sind. Aber Gerechtigkeit ist in Beziehung zu setzen zur Effizienz; und der Konflikt zwischen beiden Zielen kann wohl nur von Ökonomen hinreichend beschrieben werden. Ich will damit aber nicht sagen, dass der Markt gerecht ist. Der Markt ist ungerecht, weil er nach der Knappheit der angebotenen Leistung entlohnt. Wenn mehr Menschen das Gleiche tun wie man selbst, fällt der Lohn, obwohl sich die eigene Leistung nicht verändert. Auch deshalb muss man die Einkommensverteilung des Marktes durch Staatseingriffe korrigieren. Aber je mehr man das tut, desto kleiner wird der Kuchen, der zu verteilen sit. Also muss man einen vernünftigen Kompromiss zwischen dem Ziel der Gerechtigkeit und dem Ziel der Maximierung des verteilbaren Kuchens herstellen. Am gerechtesten ist wahrscheinlich ein ideales kommunistisches System, das in Armut dahinsiecht.

Ist es nicht merkwürdig, dass meist Leute für soziale Einschnitte votieren, denen es selbst gut geht?

Das ist genauso sehr und genau so wenig merkwürdig wie der Umstand, dass diejenigen, die vom Sozialsystem profitieren, Theorien des Wirtschaftsablaufs gut finden, die den Sozialstaat als nützlich und notwendig begründen.

Könnte es sein, dass Menschen eher für Einschnitte plädieren, die sie selbst garantiert nicht treffen und dass deshalb die Wohlhabenden Einschnitte bei den weniger Wohlhabenden bevorzugen?

Sie fragen so, dass die Antwort, die Sie hören wollen, schon klar ist. So auch in diesem Fall.

Warum redet kein Ökonom davon, welche Opfer die Wohlhabenden bringen könnten, damit unser Land wieder auf die Beine kommt?

Weil die staatliche Umverteilung von den Wohlhabenden zu den weniger Wohlhabenden die Ursache der deutschen Probleme ist. Das Maß der sinnvollen Umverteilung ist überschritten, wenn - bezogen aufs Volkseinkommen - die Staatsquote bereits bei 57 Prozent liegt, wenn der Staat schon beim durchschnittlichen Arbeitnehmer zwei Drittel der Früchte einer zusätzlichen Anstrengung für sich beansprucht und wenn mehr als 40 Prozent der Erwachsenen ihr hauptsächliches Einkommen als Sozialleistung oder Rente vom Staat bekommen. Wir müssen den Leistungsfähigen wieder mehr von dem belassen, was sie verdienen. Sonst bleiben die Leistungsanreize zu gering.

Was halten Sie von folgendem Satz. Wir arbeiten, um zu leben, wir leben nicht, um zu arbeiten?

Den würde ich unterschreiben: Der Zweck des Arbeitens ist es zu leben. Aber ohne Arbeit ist das Leben für viele Menschen inhaltsleer.

Für viele Menschen ist die Wirtschaft heute eine gigantische Maschine, die immer höhere Anforderungen stellt, die aber immer größere Teile der Bevölkerung mit immer weniger Lohn abspeist.

Das ist dummes Zeug. Die Wirtschaft ist eine Veranstaltung, die auch den Ärmsten der Armen Wohlstand gebracht hat.

Gilt das auch heute und für die Zukunft?

Das gilt auch heute und für die Zukunft. Ohne eine funktionierende und florierende Wirtschaft geht es gerade den ärmeren Schichten der Bevölkerung ziemlich dreckig.

Könnte es sein, dass die Wirtschaft das Gros der Menschen in puncto Leistungsfähigkeit und Flexibilität überfordert?

Nein. Wirtschaft bildet sich ja durch die Menschen, die sie tragen. Wenn man sie ungestört arbeiten lässt, ist die Wirtschaft auch in der Lage, Menschen jedweder Fähigkeiten und Neigungen sinnvoll zu integrieren. Denken Sie nur an die Erfolge der Nachkriegszeit, als Deutschland dank seiner frühzeitigen Entscheidung für die freie Marktwirtschaft in der Lage war, den Kriegsieger Großbritannien zu der stattdessen auf ein System des Dirigismus und den Ausbau des Sozialstaates gesetzt hatte.

Hätten Sie Recht, dann dürfte es in der Vergangenheit nie zu Ausbeutung und zu sozialen Verwerfungen gekommen sein.

Die Ausbeutung des Menschen ist sicher nicht das Ergebnis der Marktwirtschaft, sondern im Gegenteil das Ergebnis feudaler Gesellschaftsstrukturen. Sicher, die Frühphase der industriellen Entwicklung war durch massive soziale Verwerfungen gekennzeichnet, die meine geistigen und institutionellen Amtsvorgänger, die so genannten Kathedersozialisten des Vereins für Socialpolitik, zu Recht angeprangert haben. Aber ein sozialistisches System wäre damals noch viel weniger in der Lage gewesen, damit zurechtzukommen.

Seit Jahren fordern gerade Ökonomen die Gewerkschaften auf, sich bei Lohnforderungen zu mäßigen. Gibt es diesen Zusammenhang überhaupt noch: je geringer der Lohn, desto größer die Nachfrage nach Arbeitskräften?

Dieser Zusammenhang ist empirisch durch eine Vielzahl ökonometrischer Studien belegt. Ich würde deshalb von einem Fundamentalgesetz der Ökonomie sprechen, das den gleichen Stellenwert hat wie die Gesetze der Statik beim Hausbau.

Aber die Rationalisierung der Unternehmen wird ja nicht nur durch Arbeitskosten angetrieben. Vielfach arbeiten Maschinen einfach präziser und zuverlässiger als Menschen. Niemand könnte zum Beispiel Mikroprozessoren in Handarbeit zusammenlöten. Oder wenn man sich ein Werk der Automobilproduktion anschaut - da würde doch keiner zusätzlich ans Fließband gestellt, sobald die Löhne geringer ausfielen?

Aber sicher wäre es so. Ein Beispiel: Bei VW in Wolfsburg ist die Werkshalle voller Roboter, im VW-Werk im tschechischen Falkenau ist sie dagegen voller Menschen. Die Lohnunterschiede haben zur Folge, dass sich in Tschechien ein Roboter erst lohnt, wenn er zehn Menschen ersetzt; in Wolfsburg. lohnt er sich bereits, wenn er zwei Menschen ersetzt.

Dass sich die Vorstände großer Konzerne selbst in Krisenzeiten immer größere Millionenbeträge einstecken, stört offenbar keinen Wirtschaftswissenschaftler?

Unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten stört das sehr wohl. Ich wiederhole aber: eine Marktwirtschaft ist keine Veranstaltung, die gerechte Einkommen verteilt. Wer das Gegenteil behauptet, ist ein Ideologe. Ich sehe nur keine Möglichkeit, dies zu ändern. Wenn Sie die Managergehälter deckeln wollen, bleiben die Flaschen in Deutschland und die Spitzenkräfte gehen ins Ausland. Da würde ich eher die Gehälter der Fußballspieler, Filmschauspieler und Talkmaster deckeln. Wenn die ins Ausland gehen, ist das nicht so schlimm, aber interessanterweise stören sich die Kritiker der Managergehälter daran am wenigsten.

Das Gespräch führte Hendrik Munsberg.