Ifo-Chef Sinn: Ostdeutsche Länder sind bei EU-Osterweiterung zunächst Verlierer
DIE WELT: Bei Politikern in Ostdeutschland wächst die Sorge, dass mit der EU-Osterweiterung der "Aufbau Ost" endgültig zum Erliegen kommt. Sind solche Befürchtungen berechtigt?
Hans-Werner Sinn: Sie sind berechtigt, Denn zum einen werden die aus Brüssel kommenden Fördermittel deutlich reduziert und fehlen künftig beim Ausbau der Infrastruktur. Zum anderen wird der Wettbewerbsdruck unvergleichlich viel härter und eine Intensität annehmen, die sich Anfang der neunziger Jahre noch niemand vorstellen konnte. Natürlich ist das ein schleichender Prozess, der nicht abrupt mit dem 1. Mai einsetzt. Vielmehr hat er schon längst begonnen und wird die Entwicklung in Ostdeutschland mindestens noch über zehn bis 15 Jahre beeinträchtigen,
DIE WELT: Welche Auswirkungen hat die Erweiterung auf Arbeitsmarkt und Wachstum im Osten Deutschlands?
Sinn: Eine negative. Zwar befindet sich Ostdeutschland nach der EU-Osterweiterung nicht mehr in einer Randlage. Das wird ganz langfristig auch ökonomische Vorteile bringen. Vorläufig verlieren die ostdeutschen Länder aber als Investitionsstandort an Attraktivität. Die Ursache liegt in einem gewaltigen Lohngefälle. In Ostdeutschland sind die Löhne fünf Mal so hoch wie in Tschechien und Polen. Deshalb sind die neuen Bundesländer als Zielregion für Kapital zunehmend uninteressant. Dagegen kann man auch mit Subventionen nicht viel ausrichten, denn die führen nur zu Fehllenkungen von Kapital. Die Unternehmen müssen danach trachten, ihr Geld von den Kunden statt vom Staat zu bekommen. Deswegen werden die westdeutschen und internationalen Investoren auch weiterhin über Ostdeutschland hinweghüpfen und ihre neuen Betriebsstätten in den Reformstaaten ansiedeln. Dieser Effekt bremst das ohnehin schwache Wachstum und beeinträchtigt den Aufbau dringend benötigter Arbeitsplätze.
DIE WELT: Das ist eine düstere Zukunft für Ostdeutschland.
Sinn: Ja, in der Tat, aber es gibt auch Gewinner. Die Reformstaaten werden auf absehbare Zeit ein überdurchschnittliches Wachstum aufweisen und zum Westen aufschließen. Es wird dort ein Wirtschaftswunder geben. Als Folge werden in den Reformstaaten auch die Löhne steigen. Wenn die Anreize für lohnbedingte Standortverlagerungen erlöschen, was - je nach Reformgeschwindigkeit bei uns - zehn bis zwanzig Jahre dauern könnte, wird auch Ostdeutschland wieder Tritt fassen. Kurz- und mittelfristig jedoch werden dort die wirtschaftspolitischen Probleme zunehmen.
DIE WELT: Sind vergleichbare Effekte auch in Westdeutschland zu erwarten?
Sinn: Ja, auch von dort fließt kontinuierlich Kapital ab. Die stillen Stars des Mittelstands setzen sich sukzessive nach Osteuropa ab, nicht komplett, aber mit ihren arbeitsintensiven Produktionen der Vorleistungskette. Etwa zwei Drittel des Zuwachses der deutschen Industrieproduktion in den letzten acht Jahren ist auf eine vermehrte Wertschöpfung bei den ausländischen Lieferanten der Vorprodukte, nur ein Drittel auf eine höhere Wertschöpfung in Inland zurückzuführen. Deutschland entwickelt sich in die Richtung einer Basar-Ökonomie, denn es beliefert die Welt mit billigen und guten Produkten, die es in zunehmendem Maße nicht mehr selbst erzeugt, sondern in seinem osteuropäischen Hinterland produzieren lässt. Dieser Prozess ist in gewissem Umfang sinnvoll, aber das durch unsere Lohnpolitik künstlich vergrößerte Lohndifferenzial lässt ihn viel zu schnell ablaufen. Ein besonderes Problem ist, dass wir es wegen unseres verkrusteten Arbeitsmarktes nicht schaffen, die freigesetzten Industriearbeiter im Dienstleistungssektor unterzubringen.
DIE WELT: Wird das Gefälle zwischen Ost- und Westdeutschland nach der Aufnahme von zehn neuen Staaten in die EU womöglich sogar noch größer?
Sinn: Das vermute ich. Die ostdeutschen Länder sind künstlich an das Westniveau heran gehoben worden. Bei den Löhnen jedenfalls. Dieses Lohnniveau lässt sich nicht halten. Es muss sinken und sich mittelfristig irgendwo zwischen dem polnischen und dem westdeutschen Niveau einpendeln. Danach kann es nur in dem Maße wieder steigen, wie das Lohnniveau in den Reformstaaten steigt. Vorerst führt die riesige Lohndifferenz entlang der polnischen und tschechischen Grenze zu einer Entleerung der Gebiete auf deutscher Seite. Erst wenn die Marktkräfte über die Gewerkschaften und die Lohnersatzleistungen des Sozialstaates obsiegen, endet diese Abwanderung. Erst dann werden die Standorte für Ansiedlungen wieder attraktiv.
DIE WELT: Können Sie angesichts der drohenden Verwerfungen eine Strategie für die Bundesregierung erkennen?
Sinn: Eine solche Strategie sollte zwei Bestandteile aufweisen. Erstens müssen wir besser, und zweitens müssen wir billiger werden. Die Kombination aus Qualität und Preis begründet die Wettbewerbsfähigkeit, und für beides gibt es eine Verantwortung der Politik. Das reicht bis in Themen wie Schulreform und Eliteuniversitäten hinein. In diesen Bereichen gibt es immerhin ein bisschen Bewegung, aber was auch immer wir tun, es wird lange dauern, bis Bildungserfolge sich am Arbeitsmarkt niederschlagen. Zehn Mai wichtiger ist eine Reform des Arbeitsmarktes. Der funktioniert einfach nicht. Er ist verkrustet durch einen Kündigungsschutz, den es weltweit nirgendwo sonst in dieser Form gibt - Italien vielleicht ausgenommen. Und nicht zuletzt wurde er durch den exzessiven Ausbau des Sozialstaates behindert. Der Sozialstaat offeriert Arbeitnehmern attraktive Alternativeinkommen und erzeugt daher Lohnansprüche, die die private Wirtschaft in einer wachsenden Zahl von Fällen nicht mehr befriedigen kann. Er agiert als Konkurrent statt als Partner der Wirtschaft. Ein Befreiungsschlag, der den Staat vom Konkurrenten zum Partner der Wirtschaft macht, würde insbesondere den ostdeutschen Ländern helfen. Es liegen Vorschläge für eine aktivierende Sozialhilfe auf dem Tisch, mit Hilfe derer sich die Einkommen der Geringverdiener erhöhen lassen. obwohl die Löhne sinken. Die Politik muss sich nur heranwagen. Was im Vermittlungsausschuss beschlossen wurde, ist nur ein klitzekleiner Schritt in die richtige Richtung.
DIE WELT: Wird die Osterweiterung auch den ostdeutschen Unternehmenssektor schwächen?
Sinn: Das ist nicht gesagt. Die Unternehmen können möglicherweise sogar reüssieren, wenn sie mehr Produktion nach Osteuropa auslagern. Insofern gibt es für die Unternehmen durchaus Chancen. Leider gilt das für die Arbeitnehmer unter den heutigen institutionellen Bedingungen nicht.
Mit dem Chef des Münchner Ifo-Instituts sprach Uwe Müller.