Ifo-Präsident Sinn will staatliche Investitionen in Lohnzuschüsse für Geringverdiener umwandeln, um neue Jobs zu schaffen
DIE WELT: Herr Professor Sinn, mit der Osterweiterung der EU wird sich der Druck auf den deutschen Arbeitsmarkt noch verschärfen. Vor allem die gering Qualifizierten sowie die Menschen, die in den Grenzregionen zu Polen und Tschechien leben, sind betroffen. Was schlagen Sie vor?
Hans-Werner Sinn: Es gibt es zwei Möglichkeiten. Erstens kann man versuchen, die Löhne der gefährdeten Arbeitnehmer zu verteidigen, wie es die Gewerkschaften wollen. Das würde die Probleme des Arbeitsmarktes weiter verschärfen. Die Arbeitslosigkeit wüchse nur noch schneller, weil die Unternehmen ihre Produktion noch rascher nach Osteuropa verlagern. Diese Strategie können wir nicht durchhalten, denn dazu wird die Niedriglohnkonkurrenz zu lange andauern. Selbst wenn der polnische Lohn doppelt so schnell steigt wie früher die südeuropäischen Löhne bei der EU-Erweiterung um Spanien und Portugal, wird er im Jahr 2020 nicht einmal die Hälfte des westdeutschen Lohns betragen. Die Polen stehen dann da, wo die Spanier beim Beitritt standen.
DIE WELT: Und die zweite Möglichkeit?
Sinn: Man gibt dem Lohndruck nach, um die Arbeitplätze der Betroffenen zu retten. In einer Marktwirtschaft gibt es keine andere Möglichkeit, als sich dem Wettbewerb zu stellen. Die Löhne der gefährdeten Arbeitnehmergruppen müssen dabei nicht auf das tschechische oder polnische Niveau fallen. Schließlich haben wir immer noch bessere Standortbedingungen und eine bessere Infrastruktur als die Osteuropäer. Aber nachgeben müssen die Löhne schon. Das gilt insbesondere für weite Landstriche in den neuen Ländern, wo die Löhne vor allem in den ersten Jahren nach der Vereinigung völlig losgelöst von der Entwicklung der Produktivität angehoben wurden.
DIE WELT: Die Menschen in Ostdeutschland wehren sich gegen Lohnsenkungen. Jahrelang ist ihnen eine Angleichung an das Westniveau versprochen worden.
Sinn: Das verstehe ich, aber es wird Zeit, die Deutschen aus ihrem Traum aufzuwecken und in die Wirklichkeit zurückzuholen. Wenn man die Lohnanstiege, die wir früher gewohnt waren, in die Zukunft fortschreibt, ist Siechtum vorprogrammiert. Mit der Zunahme der Arbeitslosigkeit fällt das deutsche Volkseinkommen immer mehr hinter das der anderen europäischen Länder zurück. Das ist nicht nur für die Arbeitslosen ein hartes Los. Das ganze Gemeinwesen sackt ab. Sicher, Lohnzurückhaltung ist ebenfalls hart. Doch wird sie durch einen Rückgang der Arbeitslosigkeit und einen Anstieg des Volkseinkommens belohnt. Das ist eindeutig der bessere Weg, denn die Lohnsenkungen der Geringverdiener kann man kompensieren.
DIE WELT: Wie kann diese Kompensation konkret aussehen?
Sinn: Der Sozialstaat muss Geringverdienern Lohnzuschüsse zahlen. Diese sollten so hoch sein, dass die von der Ostkonkurrenz bewirkten Einkommenseinbußen abgefedert, wenn nicht sogar überkompensiert werden. Das Ifo-Institut hat hierzu seinen Vorschlag einer aktivierenden Sozialhilfe vorgelegt, der bei der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe in Teilen auch von der Bundesregierung übernommen wurde.
DIE WELT: Lohnsubventionen für Geringverdiener würden Milliarden kosten. Woher soll das Geld kommen?
Sinn: Wir haben das durchgerechnet. 15 bis 20. Mrd. Euro müssten umgeschichtet werden. Diese Mittel könnten durch die bereits beschlossene Abschaffung der Arbeitslosenhilfe und eine Senkung der Sozialhilfe um rund ein Drittel aufgebracht werden. Die Arbeitslosigkeit würde sinken, weil die Menschen bereit wären, auch zu niedrigeren Löhnen zu arbeiten. Dadurch würden neue Stellen entstehen. In der Summe wurden dann auch die Geringverdiener mit dem selbst erarbeiteten Lohn und den staatlichen Zuschüssen mehr Einkommen erzielen als heute.
DIE WELT: Was ist mit denen, die dennoch keine Arbeit finden?
Sinn: Die nicht Erwerbsfähigen bekommen weiter Sozialhilfe alter Art. Die Erwerbsfähigen, die keine Arbeit finden, können ebenfalls die alte Sozialhilfe weiter beziehen, nur müssen sie dem Staat dafür acht Stunden am Tag zur Verfügung stehen. Allerdings sollte der Staat die Menschen nicht vorrangig selbst beschäftigen, sondern über Werkverträge meistbietend an den privaten Sektor verleihen. Auch wenn der Honorarsatz sehr niedrig ist, ist das immer noch besser, als für die Sozialhilfe gar keine Gegenleistung zu erhalten. Die öffentlichen Kassen werden entlastet, und problematische Sozialhilfekarrieren, die nicht nur für die Kinder der Sozialhilfeempfänger ein schlechtes Beispiel bieten, werden vermieden.
DIE WELT: Kritiker warnen vor großen Beschäftigungsgesellschaften, das Handwerk fürchtet die Billigkonkurrenz. Zu recht?
Sinn: Das Handwerk muss nichts befürchten, im Gegenteil. Das Ganze ist ja auch ein Programm zur Integration der bisherigen Schwarzarbeiter in den regulären Arbeitsmarkt. Die Sozialhilfeempfänger haben für Schwarzarbeit keine Zeit mehr. Dadurch wird Nachfrage der Privathaushalte zum Handwerk umgeleitet. Außerdem profitiert das Handwerk von den billigeren Arbeitskräften, die ihnen dann zur Verfügung stehen. Dazu gehören diejenigen, die wegen der Lohnzuschüsse nun auch zu geringerem Lohn in der Privatwirtschaft arbeiten wollen, und die Leiharbeiter, die die Integration in die reguläre Wirtschaft nur auf dem Weg über die staatliche Vermittlung schaffen.
DIE WELT: Die Gewerkschaften sind strikt gegen Lohnsenkungen. Sie fordern einen Mindestlohn und tarifliche Bezahlung für Langzeitarbeitslose.
Sinn: Sie vertreten Partikularinteressen zu Lasten unserer Gemeinschaft. Ohne die Senkung der Löhne in den von der Ostkonkurrenz besonders gefährdeten Bereichen brechen immer mehr Stellen weg. Neue Stellen gibt es nur bei niedrigeren Löhnen. Das wissen auch die Gewerkschaften, denn sonst würden- sie nicht fortwährend die Senkung der Lohnnebenkosten fordern. Wenn der Preis fällt, steigt die Nachfrage. Der Arbeitsmarkt bildet hier keine Ausnahme. Es fehlt ja nicht an der Bereitschaft der Menschen zu arbeiten, sondern es fehlt an Stellen, und neue Stellen unter sonst gleichen Voraussetzungen gibt es nur bei niedrigeren Löhnen. Freilich reicht der Verzicht auf formelle Mindestlöhne nicht aus. Der Sozialstaat muss außerdem seine Lohnersatzpolitik zu Gunsten einer Zahlung von Lohnzuschüssen zurückfahren, denn der Lohnersatz ist ebenfalls ein Art Mindestlohn. Schließlich arbeit ja niemand für einen Lohn, der nicht hinreichend weit über dein Einkommen liegt, das der Staat bereits ohne Arbeit zur Verfügung stellt.
DIE WELT: Wie beurteilen Sie die Möglichkeiten, Geld hinzuzuverdienen, wenn Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammengelegt sind?
Sinn: Das Sozialsystem ist in dieser Hinsicht verbessert worden. Aber die Vorschläge sind noch nicht ausreichend durchdacht. Mit dem im Dezember erzielten Kompromiss wird es für eine Familie mit zwei Kindern im Einkommensbereich zwischen 1500 und 2150 Euro pro Monat immer noch einen fast hundertprozentigen Transferentzug geben. Wer ein Lohneinkommen von 1500 Euro hat und dann durch Mehrarbeit noch 650 Euro hinzu verdient, hat netto nur 40 Euro mehr in der Tasche. Die Eigernordwand für Niedrigqualifizierte, die unseren Arbeitsmarkt bislang schon kaputt gemacht hat, ist noch höher geworden.
DIE WELT: Regierung und Opposition streiten darum, wer sich um die Langzeitarbeitslosen kümmern soll. Was meinen Sie? Die Bundesagentur für Arbeit oder besser die Kommunen?
Sinn: Die BA kann das unmöglich bewältigen, weil ihr der Blick auf die Verhältnisse vor Ort verwehrt ist. Nur die Kommunen kennen ihre "Pappenheimer" und können die Erwerbsfähigen von den nicht Erwerbsfähigen unterscheiden. Nur sie können sinnvolle Arbeit für die suchen, die den Weg in den ersten Arbeitsmarkt nicht selbstständig finden. In den Kommunen gibt es eine Menge Arbeit, die die Leiharbeiter erledigen könnten. Unsere Städte verdrecken, gleichzeitig gibt es Millionen Arbeitslose. Das passt nicht zusammen. Arbeit ist wahrlich genug vorhanden Sie ist nur nicht bezahlbar, weil die Arbeitslosen bereits fürs Nichtstun bezahlt werden. Dieser Unsinn muss aufhören.
DIE WELT: Wie könnte den Betroffenen in den Grenzregionen noch besser geholfen werden?
Sinn: Das System der Lohnzuschüsse sollte speziell für die ostdeutschen und bayerischen Grenzregionen verstärkt werden. Subventionen für den Kapitaleinsatz sollten in Lohnsubventionen umgeschichtet werden. Damit könnte auch ein Fehler der Vereinigungspolitik korrigiert werden. Man hatte ja versucht, die negativen Konsequenzen der übereilten Lohnanpassung an den Westen durch Kapitalsubventionen aufzufangen. Das hat zwar die Kapitalkosten verringert, half dem überteuerten Faktor Arbeit aber nicht. Im Gegenteil: Die unheilvolle Tendenz, in kapitalintensive Produktionsverfahren zu investieren, wurde so noch verstärkt. In Ostdeutschland gibt es hochmoderne Fabriken, in denen kaum noch Arbeiter zu sehen sind. Man sollte die Kapitalsubventionen verringern und dafür zusätzliche Zuschüsse an Geringverdiener zahlen. Die Löhne für Geringverdiener könnten dann sinken. Das wäre auch ein Investitionsanreiz, aber ein Anreiz, so zu investieren, dass die Arbeitslosigkeit wieder fällt.
Die Fragen stellte Stefan von Borstel