Mit Hans-Werner Sinn sprach Robert Mayer
Das Ifo-Institut schätzt das Wachstum der deutschen Wirtschaft in diesem Jahr auf 1,8 Prozent. Wie gross ist die Wahrscheinlichkeit, dass Sie die Prognose wegen des starken Euro nach unten revidieren müssen?
Sie liegt bei 50 Prozent. Ich schätze die Wahrscheinlichkeit einer Korrektur nach unten und nach oben etwa gleich hoch ein. Es kann auch viel besser kommen: dass Deutschland vom weltwirtschaftlichen Aufschwung stärker profitiert, als wir unterstellt haben. Aber natürlich ist der Euro-Kurs ein gewichtiges Risiko. Falls er über 1.30 Dollar steigt, könnte sich eine Revision unserer Prognose als nötig erweisen.
1.30 Dollar ist also die Schmerzgrenze für die deutsche Wirtschaft?
Ja, 90 Prozent der von uns befragten deutschen Unternehmen haben dies bestätigt.
Worauf gründet Ihr Optimismus hinsichtlich der Weltwirtschaft?
Vor allem auf der extrem expansiven Politik in den USA. Die amerikanische Notenbank hat den Leitzins auf das historische Tief von 1 Prozent gesenkt, und gleichzeitig hat der Staat ein gewaltiges Budgetdefizit angehäuft. Noch vor drei Jahren lag der Budgetsaldo bei plus 1,2 Prozent des Bruttoinlandprodukts, letztes Jahr aber bei minus 6 Prozent. In absoluten Zahlen entspricht dies einer Differenz von rund 700 Milliarden Dollar. Um diesen Betrag hat der amerikanische Staat das jährliche verfügbare Einkommen der Privathaushalte erhöht. Das sind etwa 2,5 Prozent des Weltsozialprodukts - ein so gigantisches Konjunkturprogramm hat es noch nie gegeben. Die Wirkungen sind schon spürbar: Wir erwarten in diesem Jahr ein Wachstum in den USA von über 4 Prozent.
Die expansive Fiskalpolitik der Regierung Bush trägt aber auch zur Schwäche des Dollar bei, unter der vor allem die Europäer zu leiden haben.
Sie sprechen das Leistungsbilanzdefizit der USA an, das mit etwa 5 Prozent des Bruttoinlandprodukts extrem groß ist und durch den Konjunkturaufschwung mitverursacht wird. Dieses Defizit ist in der Tat eine latente Gefahr für die Weltwirtschaft, allerdings keine neue: Es war schon der Grund dafür, dass vor drei Jahren die Blase an den internationalen Börsen platzte.
Was genau ist damals passiert?
Die Amerikaner pumpten die Welt voll mit ihren Wertpapieren, um ihr Leistungsbilanzdefizit zu finanzieren, weil die US-Bürger zu wenig sparten. Das ging so lange gut, bis die Anleger gesättigt waren und keine amerikanischen Wertpapiere mehr kaufen wollten. Das Leistungsbilanzdefizit könnte jetzt auch für den Kursverfall des Dollar verantwortlich sein. Indes gibt es dafür noch eine zweite Erklärung...
...und die wäre?
Es ist der Euro-Bargeldeffekt. In den Jahren vor der physischen Einführung des Euro Anfang 2002 ging die Bargeldmenge in den jetzigen Euro-Staaten um ein Drittel zurück, die D-Mark-Bargeldmenge gar um zwei Drittel. Vor allem Bargeldhalter in Osteuropa und der Türkei, aber auch Besitzer von Schwarzgeld trennten sich von der D-Mark, nachdem klar geworden war, dass sie verschwinden würde. An ihrer Stelle kauften sie andere Währungen, vor allem Dollars, aber auch Schweizer Franken. Das ist nach meiner Einschätzung der Hauptgrund, weshalb Dollar und Franken im Vorfeld der Euro-Bargeldes so stark waren und der virtuelle Euro so schwach. Seit es nun die Euro-Noten gibt, steigt die Nachfrage nach diesem Geld in Osteuropa und anderen Teilen der Welt wieder an, was den Kurs wieder hochtreibt.
Wie sollte sich die Europäische Zentralbank in der jetzigen Situation verhalten?
Sie sollte den Euro-Kurs auf unter 1,20 Dollar drücken. Am besten wäre es, wenn wir wieder in die Richtung von 1,10 Dollar kämen. Wir müssen ja drei Kaufkraftparitäten im Auge behalten, die auf jeweils unterschiedlichen Warenkörben basieren: den Dollar-Warenkorb, da sind wir bei 92 Cent. Den OECD-Warenkorb, da sind wir bei 1,07 Dollar, und schliesslich den D-Mark-Warenkorb, wo wir bei 1,27 Dollar sind. Innerhalb dieser Bandbreite sollte sich der Euro bewegen. Beim den jetzigen Euro-Kursen sollte die EZB eine Reduktion um mindestens 10 Cent anstreben. Dafür müsste sie ungefähr 30 Milliarden Dollar Bargeld am Devisenmarkt kaufen. Eine solche Intervention übersteigt sicher nicht die Möglichkeiten der EZB.
Etliche Währungsexperten geben aber zu bedenken, dass nur koordinierte Interventionen der wichtigsten Notenbanken zum gewünschten Erfolg führen.
Die Abwertung der eigenen Währung kann eine Notenbank auch alleine bewerkstelligen, denn dazu braucht man ja nur eigenes Geld zu drucken. Anders liegt der Fall bei einer Aufwertung: Hier braucht man die Unterstützung fremder Notenbanken.
Wird 2003 im Rückblick als das Jahr in die Geschichte eingehen, in dem sich Deutschland ins Unvermeidliche geschickt hat und endlich den Weg wirtschaftlicher Reformen eingeschlagen hat?
Ich würde sagen, es ist das Jahr des mentalen Einstiegs in die Reformen. Wirklich viel ist noch nicht passiert - und dennoch genug, um Bundeskanzler Schröder seines Amtes als SPD-Vorsitzender zu berauben. Wir Ökonomen erwarten aber sehr viel mehr. Von den richtigen Reformen träumen wir noch.
Wovon träumen Sie am meisten?
Das vordringliche Thema ist der Arbeitsmarkt: Tarifrecht, Kündigungsschutz, Niedriglöhne sowie staatliche Zuzahlungen zum Lohn anstelle von Lohnersatzzahlungen. Das sind die zentralen Reformen, die das Land braucht. Wir müssen mehr Arbeitskräfte in den Arbeitsmarkt integrieren. Dann produzieren wir auch mehr, und mehr Output heisst mehr Einkommen, mehr Nachfrage, mehr Wachstum.
Aber nur schon dieser «mentale Einstieg in die Reformen» bringt die Regierung in Berlin in grösste Bedrängnis. Für weiter führende Projekte kann sie kaum mehr auf eine eigene Mehrheit im Parlament zählen.
Ja, leider. Viele deutsche Politiker, aber auch viele Wähler, haben noch gar nicht verstanden, in welcher Krise dieses Land steckt. Wir haben seit Mitte der Neunzigerjahre das niedrigste Wachstum in Europa. Wir haben seit 30 Jahren einen steigenden Trend der Arbeitslosigkeit. Die Firmenkonkurse steigen von einem Rekord zum nächsten. Und wir haben eine Fluchtbewegung des Mittelstandes: 60 Prozent der Firmen mit weniger als 5000 Mitarbeitenden haben bereits Standorte ausserhalb der EU errichtet, vornehmlich in Osteuropa. Dieser Prozess läuft in einer Gewalt ab, die erschreckend ist. Deutschland entwickelt sich zu einer Basarökonomie.
Was muss man sich darunter konkret vorstellen?
Der Anteil der Wertschöpfung, den die deutsche Industrie in Deutschland schafft, wird immer geringer. Wir sind zwar Exportweltmeister, aber die Produkte, die wir verkaufen, sind zu einem immer kleineren Anteil unsere Produkte. Seit 1995 ist die deutsche Industrieproduktion um 16 Prozent gestiegen, die reale Wertschöpfung dieser Industrie aber nur um 5 Prozent. Die Differenz entspricht den Vorleistungen aus dem Ausland, die in der besagten Zeitspanne real um 60% zulegten
Das heisst?
Zwei Drittel des Zuwachses unserer Industrieproduktion in den letzten acht Jahren ist auf eine grössere Wertschöpfung im Ausland zurückzuführen und nur ein Drittel auf mehr Wertschöpfung in Deutschland.
Liesse sich dieser Outsourcing-Prozess selbst mit raschen Reformen noch aufhalten?
Die Auslagerung von Produktionskapazitäten ist auch ein natürlicher Prozess, der in gewissem Umfang zu akzeptieren ist. Allerdings geht er viel zu schnell und wird künstlich beschleunigt durch unser hohes Lohnniveau, das zugleich verhindert, dass zum Ersatz die dringend notwendigen Arbeitsplätze im Dienstleistungssektor geschaffen werden.
Was halten Sie vor diesem Hintergrund von dem eben erzielten Tarifabschluss in der Metallindustrie?
Wenig! Er ist ein Kompromiss zwischen Arbeitnehmern, die dank Kündigungsschutz wenig Angst um ihre Jobs haben müssen, und Unternehmern, die wissen, dass sie sich der hohen Löhne durch Verzicht auf Neueinstellungen und Outsourcing nach Osteuropa entziehen können. Wir bräuchten eigentlich eine Lohnsenkung, um den wirklich beängstigend hohen Arbeitsplatzabbau in der Industrie zu stoppen. Wir haben, von Norwegen mal abgesehen, die höchsten Lohnkosten für Industriearbeiter auf der ganzen Welt, die können wir aber nicht halten.
Wann werden wir es erleben, dass die deutsche Volkswirtschaft wieder zur Wachstumslokomotive in Europa aufsteigt?
Diese Zeiten sind vorbei. Die Wachstumskräfte verlagern sich in andere Länder an der europäischen Peripherie, zum Beispiel nach Osteuropa. Dazu trägt auch der europäische Binnenmarkt wesentlich bei. Er bringt den kleinen Ländern den Vorteil, dass sie nicht mehr klein sind. Bislang hatte Deutschland einen Produktivitätsvorsprung gegenüber den kleineren Ländern, weil die deutsche Industrie dank des grossen Heimmarktes grössere Serien fahren konnte. Finnland hat heute mit Nokia die grösste börsennotierte Gesellschaft in Europa. Ohne den europäischen Binnenmarkt wäre das nie möglich gewesen. Ähnliches gilt für den Euro: Er hat die niedrigen Zinsen, die früher der deutschen Wirtschaft vorbehalten waren, für alle europäischen Länder zugänglich gemacht.
ZUR PERSON Hans-Werner SinnDer als «Vorzeigeökonom» geltende Hans-Werner Sinn, der diesen März 56 Jahre alt wird, gehört zu den besten und einflussreichsten Ökonomen in Deutschland. Seit Februar 1999 leitet der gebürtige Westfale das Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung in München, das mit dem monatlichen Ifo-Geschäftsklima-Index für das wichtigste deutsche konjunkturbarometer verantwortlich zeichnet. |