Ifo-Präsident Sinn warnt aber vor dem Verlust von Arbeitsplätzen
Die Erweiterung der EU um zehn neue Mitglieder zum 1. Mai löst bei vielen Deutschen Angst und Skepsis aus. Selbst unter Top-Managern und Spitzenpolitikern glaubt nur jeder Dritte, dass die EU die anstehende Erweiterung "gut verkraften" wird. Dies ergab eine Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach. Wir fragten Hans-Werner Sinn, Präsident des Münchner ifo-Instituts, ob die Furcht vor Arbeitslosigkeit und Senkung der Sozialstandards berechtigt ist und wo die Chancen und Risiken der Erweiterung liegen.
Müssen wir in Bayern durch die EU-Osterweiterung um unsere Arbeitsplätze fürchten?
Hans-Werner Sinn: Die Furcht ist nicht unbegründet, aber wenn man klug reagiert, lässt sich der Verlust von Arbeitsplätzen vermeiden. Damit Arbeitsplätze nicht verloren gehen, müssen wir deutliche Zugeständnisse bei der Lohnentwicklung in Kauf nehmen. Entweder wachsen die Löhne langsamer, oder mehr und mehr Arbeitsplätze gehen verloren. Der Abbau von Arbeitsplätzen, der unter anderem wegen der Osterweiterung schon seit Mitte der Neunzigerjahre im Gange ist, wird weitergehen, wenn wir nicht reagieren.
Also werden die Löhne in den nächsten Jahren fallen?
Sinn: Sie müssen langsamer steigen, wenn die Arbeitsplätze gerettet werden sollen, und einige Löhne werden sogar fallen müssen. Der beste Weg wäre es sicher, länger zu arbeiten. Dann fallen die Stundenlohnkosten für die Unternehmen, ohne dass der einzelne Arbeitnehmer auf Einkommen verzichten muss. Länger zu arbeiten ist fast das Gleiche wie e ein Produktivitätsschub durch technischen Fortschritt. Die Wirtschaft kommt schnell auf ein höheres Niveau.
Werden durch die EU-Erweiterung die Sozialstandards sinken?
Sinn: Ja, zweifellos. Die Länder der EU stehen schon heute in einem Abschreckungswettbewerb, um die Wohlfahrtsmigration zu begrenzen und den Sozialstaat trotz Immigration finanzierbar zu halten. Dieser Wettbewerb wird an Schärfe gewinnen. Das ist allerdings ein langfristiger Prozess. Ich rechne daher damit, dass in den nächsten Jahrzehnten noch viele Reformen à la Agenda 2010 folgen werden. Dadurch wird im Laufe der Jahre der westeuropäische Sozialstaat erodieren.
Wird es eine Wanderbewegung von Ost nach West geben?
Sinn: Ja, sicherlich. Besonders massiv ab 2010, wenn die volle Freizügigkeit gewährt wird.
Rechnen Sie mit einer Zunahme der Schwarzarbeit?
Sinn: Auch das. Osteuropäer dürfen erst ab 2010 in Deutschland offiziell arbeiten. Vorher werden sie schwarz arbeiten.
Ist Bayern auf die neue Konkurrenz vorbereitet?
Sinn: Das ist keine Frage, die Bayern allein lösen könnte. Hier geht es um die Änderung des Sozialstaates und Änderungen im Tarifrecht. Da muss in der Bundesgesetzgebung noch viel passieren.
Kommt die EU-Osterweiterung also zu früh?
Sinn: Sie kommt genau richtig. Wir müssen uns nur anpassen. Sie ist eine historische Notwendigkeit, an der überhaupt kein Weg vorbeiführt. Sie ist eine große Herausforderung. Damit wir sie bestehen, müssen wir unsere Reformbemühungen verstärken.
Unternehmerverbände behaupten, durch die Erweiterung würden Arbeitsplätze in Deutschland gesichert. Profitieren also auch die Arbeitnehmer?
Sinn: Vor allem werden die deutschen Unternehmen gesichert. Ob dadurch Arbeitsplätze gesichert werden, wage ich zu bezweifeln. Natürlich gibt es das eine oder andere Unternehmen, das ohne die Osterweiterung dem Druck aus Asien nicht mehr standgehalten hätte. In diesen Fällen werden dann Arbeitsplätte gesichert. Ansonsten gehen aber durch die Verlagerung der Arbeitsplätze nach Osteuropa Arbeitsplätze verloren. Der Nettoeffekt ist sicherlich negativ.
Wird sich die Abwanderungswelle deutscher Unternehmen fortsetzen?
Sinn: Seit 1995 haben wir eine massive Abwanderungswelle. Durch den Stichtag 1. Mai wird sich daran nichts ändern. Fest steht aber, dass die Abwanderungswelle durch die geplante Osterweiterung überhaupt in Bewegung gekommen ist. Denn erst durch die Integration der osteuropäischen Länder in den EU-Binnenmarkt ist für die Unternehmen eine risikofreie Verlagerung des Standorts möglich geworden.
Profitieren auch die Verbraucher von der Erweiterung?
Sinn: Der Konsument kann durch die Erweiterung künftig auch günstige Waren aus dem Osten kaufen, die es bisher bei uns nicht gab. Außerdem fallen die Preise für arbeitsintensive Dienstleistungen wie beispielsweise im Handwerk. Denn osteuropäische Handwerker dürfen sich als selbstständige Unternehmer bei uns niederlassen. Grundsätzlich gilt, dass sich die Preise durch die Öffnung der Grenzen annähern. Wenn also das Dachdecken in Tschechien billiger ist als in Deutschland, wird der hiesige Preis sinken und der tschechische steigen.
Überwiegen nun insgesamt die Risiken oder die Chancen?
Sinn: Die Chancen überwiegen eindeutig. Die Öffnung der Grenzen ermöglicht Wohlfahrtsgewinne für beide Seiten. Aber das Problem ist, dass diese Gewinne nicht gleichmäßig verteilt sind. Der Kuchen für Deutschland wird größer, aber viele bekommen ein kleineres Stück. Aber es wird auch in Deutschland Gewinner geben - dazu gehören viele Unternehmer.
Das Gespräch führte Steffen Habit