Hans-Werner Sinn, Präsident des Münchner Ifo Instituts für Wirtschaftsforschung, zu Tarifverhandlungen:
Leipzig. Mit Blick auf die laufenden Tarifverhandlungen sollten die Löhne nur im Umfang der Inflationsrate erhöht werden. Das sagt Hans-Werner Sinn, Präsident des Münchner Ifo Instituts für Wirtschaftsforschung, im Gespräch mit unserer Zeitung.
Frage: Die Tarifverhandlungen laufen. Welcher Abschluss ist in der heutigen Lage wirtschaftlich verkraftbar?
Wir müssen wieder wettbewerbsfähig werden und die exzessiven Erhöhungen der letzten 30 Jahre nach unten korrigieren. Daher wäre für längere Zeit eine Politik der absoluten Bescheidenheit angebracht. Mein Vorschlag: Die Löhne nur im Umfang der deutschen Inflationsrate erhöhen, so dass sie real konstant bleiben. Wir könnten dann sukzessive im Laufe der Jahre den Produktivitätsfortschritt ausnutzen, um wieder wettbewerbsfähig zu werden und Arbeitsplätze zu schaffen.
Gilt das auch für Ostdeutschland?
Das gilt insbesondere auch für die neuen Länder, die unter dem Einfluss der westdeutschen Konkurrenten, die hier vor der Privatisierung durch die Treuhand die Löhne verhandelten, viel zu schnell auf das Westniveau gehoben wurden. Die Konkurrenten hatten Erfolg. Die industrielle Basis der ehemaligen DDR ist vernichtet worden, ohne dass man in besonderem Umfang ausländische Investoren hat anlocken können. Nennenswerte Konkurrenz ist im Osten nicht entstanden.
Das Argument, Deutschland leide aus Kostengründen unter einer Wettbewerbsschwäche lassen die Gewerkschaften nicht gelten. Sie verweisen darauf, dass die Bundesrepublik schließlich Exportweltmeister sei.
Die Gewerkschaften verwechseln die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen mit jener der Arbeitnehmer. Die Unternehmen bleiben wettbewerbsfähig, weil sie die arbeitsintensiven Teile ihrer Vorproduktketten ins Ausland verlagern, wo die Arbeit viel billiger ist, aber die Arbeiter haben ihre Wettbewerbsfähigkeit schon größtenteils verloren, wie die hohe Arbeitslosigkeit zeigt. Ein wachsender Teil der hohen Exporte, die die Statistik ausweist, wird gar nicht mehr in Deutschland, sondern im Ausland, und hier vornehmlich in unserem osteuropäischen Hinterland produziert. Im übrigen ist der hohe Dollarwert der Exporte, der uns kurzzeitig zum Exportweltmeister gemacht hat, ein Kunstprodukt, das darauf zurückzuführen ist, dass ein Exportvolumen durch die Euroaufwertung rechnerisch aufgebläht wurde.
Insbesondere die niedrigen Löhne in den osteuropäischen Ländern machen der deutschen Wirtschaft seit dem Fall des "Eisernen Vorhangs" zu schaffen. Wie können wir dieser Gefahr in Zukunft besser begegnen?
Vor allem im Bereich der einfachen Arbeit sind wir in Deutschland zu teuer. Die Qualität unseres Angebots ist dagegen in der Regel bereits hoch. Da haben wir wenig Spielraum, um noch wesentlich zu punkten. Maßnahmen, die noch nicht ausgereizt sind, wie zum Beispiel die Verbesserung unseres Schulsystems, führen erst sehr langfristig zu einem noch besser ausgebildeten Bestand an Arbeitskräften. Ob wir wollen oder nicht: Dem Niedriglohnwettbewerb mit unseren östlichen Nachbarn können wir nicht ausweichen.
Aber unsere Produktivität ist hoch.
Das heißt auch nicht, dass wir nur wettbewerbsfähig sind, wenn unsere Löhne auf deren Niveau fallen. Noch ist unsere Produktivität hoch genug, um wesentlich höhere Löhne zu rechtfertigen, wenn auch nicht die, die wir haben. Es ist alles eine Frage des Augenmaßes. Wer behauptet, wir brauchten uns dem Lohnwettbewerb nicht zu stellen, ist sicher ein guter Populist, ein guter Ökonom ist er bestimmt nicht. Er redet einer Politik das Wort, die eine Vergrößerung der Massenarbeitslosigkeit und politisches Chaos bedeuten kann.
Wie bekommt ein langjähriges Hochlohnland wie Deutschland seine Löhne runter?
Wie gesagt, die Löhne müssen nicht real herunter. Es reicht, wenn der Produktivitätszuwachs für einige Jahre nicht verteilt wird. Die Tarifpartner benötigen andere Rahmenbedingungen, unter denen sie so verhandeln können, dass mehr Lohnflexibilität entstehen kann. Wir brauchen Öffnungsklauseln, die den gefährdeten Betrieben ein Ausweichen nach unten erlauben. Das andere Problem, das angepackt werden muss, sind die Rückwirkungen des Sozialstaates auf den Arbeitsmarkt: Der Sozialstaat gebärdet sich auf dem Arbeitsmarkt als großer Konkurrent der Privatwirtschaft, weil er Lohnersatzeinkommen anbietet. Diese treiben die Löhne der gering Qualifizierten künstlich hoch. Niemand arbeitet schließlich für einen Lohn, der niedriger ist als der, den ihm der Staat fürs Nichtstun zahlt.
Das würde ein völliges Umdenken beim Sozialstaat erfordern.
Ja. Der Sozialstaat darf sein Geld nicht mehr, wie das heute der Fall ist, unter der Bedingung auszahlen, dass man sich aus dem Arbeitsmarkt entfernt. Vielmehr muss er die Bedingung setzen, dass man mitmacht. Das Geld, das der Staat zur Hilfe für die weniger leistungsfähigen Mitglieder der Gesellschaft zur Verfügung hat, muss in Zukunft verstärkt als Lohnzuschuss statt als Lohnersatz gezahlt werden. So werden die Löhne flexibel, und die Bereitschaft, zu niedrigeren Löhnen zu arbeiten steigt. Zu niedrigeren Löhnen wird es genügend Arbeit geben, und bei niedrigeren Löhnen wird dieses Land wieder wettbewerbsfähig werden.
Das wird für sehr viele Arbeitnehmer bitter werden.
Davon bin ich nicht überzeugt. Wenn man nämlich den Sozialstaat so umbaut, dass ein System von Lohnzuschüssen eingerichtet wird, dann bekommen die Arbeitnehmer zwar den niedrigeren Lohn, aber eben auch noch die Lohnzuschüsse. Und in der Summe aus beidem werden gerade die weniger leistungsfähigen Mitglieder der Gesellschaft besser dastehen, als das heute der Fall ist.
Interview: Dieter W. Heumann