AZ: Herr Sinn, was ist schief gelaufen beim Aufbau Ost?
Die West-Tarifpartner haben für den Osten die Tarife ausgehandelt. Beide hatten kein Interesse an einem Niedrigtarif-Gebiet. So sind die Löhne zu schnell erhöht worden. Zudem sind West-Sozialstandards wie Arbeitslosen- und Sozial-hilfe oder Frühverrentung fast eins zu eins auf den Osten übertragen worden. Dadurch wurden Lohnansprüche geschaffen, die je nach Familienstand dem Vier- bis Zehnfa-chen der Ex-DDR-Löhne entsprachen.
Was waren die Folgen?
Dass sich zu wenig Firmen angesiedelt haben. Wären die Löhne bis zum Ende der Pri-vatisierung bei den 30 Prozent des West-Niveaus geblieben, die sie durch die günstigere Währungsumstellung erreicht hatten, hätte es ein Wirtschaftswunder gegeben. Investo-ren hätten sich um den Standort gerissen, um von ihm aus Europas Binnenmarkt mit seinen 375 Millionen Menschen zu bedienen.
Aber es ist schwierig, den Menschen zu sagen, ihr verdient nur 30 Prozent des West-Niveaus…
Die Löhne wären schnell gestiegen, weil es einen Konkurrenzkampf der Firmen um Arbeitnehmer gegeben hätte. So aber sind Unternehmen erst gar nicht gekommen mit der Folge, dass zu wenig Arbeitsplätze entstanden sind. Die Situation in Ostdeutschland ist vergleichbar mit dem Mezzogiorno in Italiens Süden: Die volkswirtschaftliche Pro-duktivität verharrt bei nur etwa 60 Prozent des restlichen Landes.
Welchen Ausweg sehen Sie?
Entscheidend ist, dass der Sozialstaat mehr auf Lohnzuschüsse setzt. Das heißt vor al-lem, dass er auf niedrigere Löhne etwas draufzahlt. Statt Arbeitslosigkeit würde er Ar-beit fördern. Derzeit ist die Bedingung für staatliche Hilfe, dass man nicht arbeitet. Ein großer Teil der Ost-Förderung sollte in Lohnzuschüssen umgewandelt werden. Dadurch würden bundesweit zwei bis drei Millionen Jobs entstehen, besonders bei gering Qualifizierten und Langzeitarbeitslosen im Osten.
Interview: Harald Freiberger