"Wir leiden unter fünf großen Schocks"

Interview mit Hans-Werner Sinn, Finanzen, 19.07.2004, S. 13

Die Wirtschaftsforscher schrauben ihre Wachstumsprognosen für die deutsche Wirtschaft nach oben. Darunter auch das ifo Institut. Ist Deutschland also wieder im Aufwind? ifo-Chef Hans-Werner Sinn macht sich keine Illusionen. Im Gespräch mit FINANZ€N Investmentfonds & Zertifikate konstatiert er eine strukturelle Wachstumsschwäche.

FINANZ€N: Herr Professor Sinn, wie die Weltwirtschaft erlebt derzeit einen Aufschwung. Deutschland hinkt jedoch hinterher. Was machen andere Länder besser als wir?

Sinn: Der Befund ist zunächst einmal richtig. Die Weltwirtschaft wird 2004 und 2005 mit rund 4,5 Prozent wachsen. Und damit so schnell wie bislang nur einmal in den letzten 15 Jahren. Einzig im Jahr 2000 ist die Weltwirtschaft mit 4,7 Prozent stärker gewachsen.

FINANZ€N: Was ist die Ursache für diese Dynamik?

Sinn: Vor allem der kräftige Aufschwung in Asien und den USA. In den USA beispielsweise wurde die Konjunktur durch eine expansive Geld- und Fiskalpolitik angeschoben, wie sie in der Geschichte bislang noch kein Beispiel hatte. Insgesamt geht es hier um einen Effekt von 640 Milliarden Dollar auf das Volkseinkommen der USA.

FINANZ€N: Mit der Folge, dass der Staatshaushalt der USA von einem Überschuss in ein Defizit gerutscht ist.

Sinn: Durchaus richtig. 2000 gab es im US-Staatshaushalt noch einen Überschuss von 1,6 Prozent. Für 2004 rechnen wir mit einem 4,8-prozentigen Defizit. Die USA können sich eine derartige Politik erlauben, wir hingegen nicht.

FINANZ€N: Warum nicht?

Sinn: Wir wachsen viel langsamer. Das amerikanische Sozialprodukt läuft den Schulden immer wieder davon. Darauf können wir leider nicht hoffen. Deutschland wird die dreiprozentige Defizitgrenze des Stabilitäts- und Wachstumspakts im Jahr 2004 zum dritten Mal in Folge überschreiten. Auch für 2005 ist keine nachhaltige Besserung in Sicht. Die Entwicklung der deutschen Staatsfinanzen ist als bedrohlich einzustufen.

FINANZ€N: Das ifo Institut hat aber doch erst jüngst seine Prognose für das Wirtschaftswachstum in 2004 und 2005 auf jeweils 1,7 Prozent erhöht.

Sinn: Die deutsche Konjunktur folgt dem weltweiten Trend jedoch nur im Schlepptau. Gegenüber vergleichbaren Ländern ist Deutschland weiterhin ein Schlusslicht beim Wachstum. Derzeit kommen zu viele strukturelle Probleme zusammen, als dass wir am Aufschwung der Weltwirtschaft teilnehmen könnten wie andere Länder.

FINANZ€N: Welche Probleme meinen Sie konkret?

Sinn: Die deutsche Wirtschaft leidet momentan unter fünf großen Schocks, die uns harte Anpassungslasten abverlangen. Vier Faktoren sind exogener Natur: Die Globalisierung, der europäische Binnenmarkt, die Einführung des Euro und die Osterweiterung der EU. Ein endogener Faktor ist die deutsche Vereinigung, die uns jährlich 85 Milliarden Euro kostet. Dazu kommen als Dauerproblem die bekannten Fehler im deutschen Arbeits- und Sozialrecht.

FINANZ€N: Inwiefern belastet der EU-Binnenmarkt die deutsche Wirtschaft?

Sinn: Die Ursache ist ein Größeneffekt. Deutschland profitiert zwar vom EU-Binnenmarkt, aber weniger stark als die kleinen Länder. Wir hatten schon vorher einen großen eigenen Binnenmarkt. Der europäische Binnenmarkt hilft den kleinen Ländern, den Nachteil ihrer Kleinheit zu überwinden. Sie können jetzt auch in die industrielle Großserienproduktion gehen wie Deutschland. Der Erfolg von Nokia etwa wäre ohne den Binnenmarkt undenkbar gewesen.

FINANZ€N: Sie haben auch den Euro angesprochen. Was ist hier das Problem?

Sinn: Verstehen Sie mich nicht falsch, ich bin ein Befürworter des Euro, weil ich ein guter Europäer sein will. Man muss aber sehen, dass Deutschland seinen relativen Zinsvorteil, der Mitte der 90er Jahre im Vergleich zu einigen Ländern noch fünf bis sechs Prozent betrug, eingebüßt hat.

FINANZ€N: Sie sehen in der Osterweiterung der EU ebenfalls einen Anpassungsschock. Wie macht sich das bemerkbar?

Sinn: Die Bevölkerung der zehn neuen EU-Mitglieder entspricht einem Fünftel der Bevölkerung in der alten EU. Beim Bruttoinlandsprodukt lautet das Verhältnis jedoch 1:20. Daher werden die Länder Mittel- und Osteuropas in den nächsten Jahren stark wachsen. Die Wohlstandslücke dieser Länder drückt sich aber auch in niedrigeren Lohnkosten aus. Die Lohnkosten der neuen EU-Mitglieder entsprechen lediglich 15 Prozent der deutschen Lohnkosten.

FINANZ€N: Was hat das für Folgen?

Sinn: Die deutschen Unternehmen sichern ihre Wettbewerbsfähigkeit, indem sie Teile der Produktion nach Mittel- und Osteuropa auslagern. Die deutschen Arbeitnehmer verlieren aber noch weiter an Wettbewerbsfähigkeit, weil sie zu teuer sind.

FINANZ€N: Wenn unsere östlichen Nachbarn stärker wachsen, wird sich der Lohnabstand aber irgendwann schließen.

Sinn: Eine Anpassung der Lohnkosten von Ost- an Westeuropa wird natürlich zwangsläufig stattfinden. Aber man sollte sich keine Illusionen machen. Bis zum Jahr 2020 ist eine Angleichung auf 40 Prozent möglich - wenn die Konvergenz doppelt so schnell abläuft wie seinerzeit im Westen. Derzeit fehlen dafür leider die Anzeichen. Das mag vielen als langsam erscheinen, aber für Ökonomen ist das eine schnelle Entwicklung.

IM PROFIL
Prof. Dr. Hans-Werner Sinn
Hans-Werner Sinn lehrt seit 1984 an der Ludwig-Maximilians-Universität in München und bekleidet dort den Lehrstuhl für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft. Seit 1999 ist er zudem Präsident des ifo Instituts. In seinem neuen Buch ("Ist Deutschland noch zu retten?") analysiert er die ökonomische Lage Deutschlands.