Der Chef des Ifo-Instituts, Hans-Werner Sinn, sieht in Hartz IV nur einen Anfang.
Frage: Herr Prof. Sinn, glauben Sie selbst eigentlich noch an Konjunkturprognosen?
Sinn: Ja, wir haben für dieses Jahr im vergangenen Jahr ein Wirtschaftswachstum von 1,8 Prozent vorhergesagt. Diese Zahl haben wir bislang nicht revidieren müssen. Es läuft ziemlich exakt so, wie vorhergesagt.
Frage: In Ihrem jüngsten Buch stellen Sie die Frage: "Ist Deutschland noch zu retten?" Zu welcher Antwort gelangen Sie?
Sinn: Es ist zu retten. Wir brauchen aber sehr radikale Reformen, die weit über das hinausgehen, was bisher gemacht wurde.
Frage: In einem anderen Interview haben Sie sich pessimistischer geäußert und gesagt, Sie könnten sich "kein glorreiches Szenario für Deutschland mehr vorstellen". Was denn nun?
Sinn: Beide Aussagen sind richtig. Ein glorreiches Szenario für Deutschland ist schon wegen der Überalterung der Gesellschaft nicht mehr möglich. Wo soll die Dynamik noch herkommen? Ein Wachstum wie in den 60er, 70er und 80er Jahren kommt nicht wieder. Trotzdem könnte man eine weitere langsame Entwicklung zu Wohlstand und Vollbeschäftigung haben.
Frage: Waren die bisherigen Reformen der Bundesregierung da schon Schritte in die richtige Richtung?
Sinn: Ja. Das Besondere liegt im psychologischen Effekt der Kehrtwende, die die Politik vollzieht. 30 Jahre lang hat sie den Sozialstaat ausgebaut, und jetzt beginnt sie mit dem Abbau. Wir müssen aus dem Traum vom Schlaraffenland erwachen.
Frage: Schafft Hartz IV denn wenigstens neue Jobs?
Sinn: Wenn, dann aus einem Grund, den die Regierung verschweigt. Die spricht vom Fördern und Fordern und von der besseren Vermittlung. Warum das Jobs bringen soll, versteht keiner. In Wahrheit geht es um eine Lohnsenkung. Die kommt zustande, weil durch die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe die bislang Begünstigten auf die Sozialhilfe zurückfallen und bereit sein werden, für weniger Geld zu arbeiten. Sinkende Löhne bringen mehr Beschäftigung, weil dann potenzielle Jobs, die bislang nur in den Köpfen der Arbeitgeber existieren, die Rentabilitätsschwelle überschreiten und realisiert werden.
Frage: Sie meinen also etwa Arbeiter im Supermarkt, die für fünf Euro beim Einpacken helfen?
Sinn: Zum Beispiel.
Frage: Haben Sie selbst schon einmal mit so wenig Geld auskommen müssen?
Sinn: Ich habe in meiner Kindheit mit sehr viel weniger auskommen müssen. Im Vergleich dazu leben die Sozialhilfebezieher luxuriös. Aber verstehen Sie mich nicht falsch. Ich will den Lebensstandard nicht senken. Ich kritisiere, dass man Sozialhilfe bekommt, wenn man nicht arbeitet, und sie verliert, wenn man es tut. Würde eine reduzierte Sozialhilfe zusammen mit dem Arbeitseinkommen gezahlt, hätten gerade die Ärmsten mehr Geld in der Tasche als bei Hartz IV.
Frage: Was ist Ihr Vorschlag?
Sinn: Man muss die Sozialhilfe senken und das durch die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe freiwerdende Geld verwenden, um Lohnzuschüsse zu zahlen. Nach unseren Vorschlägen dürfte man bis zu 400 Euro hinzuverdienen, ohne Abstriche bei der Sozialhilfe hinzunehmen. Außerdem würde der Staat sogar noch für die ersten 200 Euro einen Lohnzuschuss von 20 Prozent zahlen, also 40 Euro.
Frage: Die künftigen Arbeitslosengeld-II-Bezieher dürfen künftig noch weniger hinzuverdienen als die bisherigen Empfänger von Arbeitslosenhilfe. Geht das nicht in die falsche Richtung?
Sinn: Ja, bei Hartz IV wird der ganze Verdienst angerechnet, und es bleibt fast nichts. Das ist ein Fehler. Der muss unbedingt korrigiert werden.
Frage: Wenn Sie nun der Bundesregierung angehören würden: Wie sähe dann Hartz V aus oder besser: Sinn I?
Sinn: Es müsste ein neuer Sozialstaat geschaffen werden, der den Schwachen unter der Bedingung hilft, dass sie sich auch selber helfen. Wir sollten den Lohnersatz für arbeitsfähige Menschen deutlich reduzieren und durch großzügige Lohnzuschüsse ersetzen. Dann wandelt sich der Staat vom Konkurrenten, der die Löhne hochtreibt und Arbeitslosigkeit erzeugt, zum Partner der Privatwirtschaft. Mit Lohnzuschüssen können die Menschen zu geringeren Löhnen arbeiten, und zu geringeren Löhnen gibt es Stellen für sie. Gleichzeitig haben sie höhere Einkommen. Es ist immer besser, wenn der Staat das Arbeiten bezahlt als das Nichtarbeiten.
Frage: Was ist mit jenen, die keine Arbeit finden - auch keine Billigjobs?
Sinn: Wir brauchen zusätzlich kommunale Jobs. Notfalls kann man bei der Gemeinde weiterhin die alte Sozialhilfe bekommen, muss dann aber acht Stunden am Tag dafür arbeiten. Die Gemeinden sollen die Arbeit an die private Wirtschaft weiterverleihen.
Frage: Besteht nicht die Gefahr, dass die Unternehmer gut bezahlte Jobs durch billigere ersetzen?
Sinn: Das ist keine Gefahr, sondern eine Selbstverständlichkeit, die man einkalkulieren muss. Der Lohn der gering Qualifizierten, die Arbeit haben, käme mit ins Rutschen. Deshalb muss das staatliche Zuschusssystem auch für diese Personen greifen.
Frage: Kämen auch die Spitzenlöhne ins Rutschen?
Sinn: Nein, die Lohnunterschiede würden größer. Unter dem Blickwinkel der Beschäftigung sind die niedrigen Löhne zu hoch, nicht die hohen. Die Löhne sind zu wenig nach Qualifikationen gespreizt. Mehr Ungleichheit bei den Löhnen ist die Voraussetzung für den Rückgang der Arbeitslosigkeit bei den gering Qualifizierten, die in Deutschland höher ist als in jedem anderen entwickelten Land. Freilich ist die größere Lohnspreizung nicht gerecht. Deswegen brauchen wir Lohnzuschüsse.
Das Interview führte Alexander Marinos