ifo-Chef Sinn über die EU-Annäherung der Türkei und Hartz IV
Wie wäre ein Türkei-Beitritt zur Europäischen Union ökonomisch zu bewerten?
Sinn: Die zweistelligen Milliardenbeträge, die der Türkei aus EU-Geldern zustehen würden, wären nicht das Hauptproblem. Schließlich verteilen sich die Lasten auf 25 Staaten. Das wirkliche Problem liegt darin, dass die Türkei sehr groß ist: 70 Millionen Einwohner und in 10 bis 15 Jahren das bevölkerungsreichste Land Europas. Die Löhne dort liegen noch unter dem Niveau von Osteuropa. in einer Übergangszeit von mehreren Jahrzehnten werden im Hochlohnland Deutschland die Löhne im unteren bis mittleren Bereich bereits durch den EU- Beitritt der Ostländer unter Druck geraten. Wenn auch noch die Türkei beitritt, wird die Zahl der Verlierer unter den deutschen Arbeitnehmern noch größer. So wünschenswert und sinnvoll ein Türkei-Beitritt ganz langfristig vielleicht sein mag - Finger weg: Wir verheben uns!
Zur Innenpolitik: Die CDU will den Kündigungsschutz stark einschränken. Führt das zu mehr Einstellungen oder werden dann nur noch mehr Menschen lassen?
Sinn: Ein vernünftiges Maß an Vertragsfreiheit beim Kündigungsschutz ist das A und 0 für eine Marktwirtschaft. Ich würde neu eingestellten Arbeitnehmern das Recht geben, den Vertrag abzuschließen, den sie haben wollen. Altverträge würde ich nicht verändern. Dann bliebe es den Arbeitgebern und Arbeitnehmern selbst überlassen, ob sie mit ihrem Betrieb Abfindungen oder Kündigungsschutz vereinbaren. Es käme Bewegung in den starren Arbeitsmarkt. Dänemark und England haben sehr gute Erfolge mit der Vertragsfreiheit beim Kündigungsschutz gemacht. Manchmal ist weniger eben mehr.
Wird sich Hartz IV positiv auswirken?
Sinn: Ja. Die Leute werden bereit sein, Jobs zu niedrigeren Löhnen anzunehmen und es wird dann auch mehr Jobs geben. Denn Arbeit gibt es in den Köpfen der Arbeitgeber genug, nur ist sie bisher nicht rentabel.
Wenn sie Hartz IV überarbeiten müssten, gewissermaßen ein Hartz V auflegen - was würde sich ändern?
Sinn: Ich würde die Kürzung von ALG II nicht an die Ablehnung zumutbarer Arbeit knüpfen. Dabei ist der Staat nämlich immer in Beweisnöten. Mein Gegenkonzept: Ich würde den Sozialhilfesatz generell um ein Drittel absenken. Zum Ausgleich würde ich die Hinzuverdienstmöglichkeiten sehr viel großzügiger ausgestalten. Bis 400 Euro würde ich den Sozialhilfesatz nicht antasten. Bis 200 Euro würde ich einen Lohnzuschuss von 20 Prozent auf das selbst verdiente Einkommen zahlen, so dass der Einstieg in den Arbeitsmarkt in Gang kommt Bei Hartz IV sind die Zuverdienstmöglichkeiten unter anderem im Geringverdienerbereich mit 15 Prozent viel zu eingeschränkt.
Was machen Sie mit denen, die keine Arbeit finden? Wie können die dann noch leben?
Sinn: Denen würde ich kommunale Jobs anbieten, die in Höhe der heutigen Sozialhilfe entlohnt sind. Dann sind die Einkommen gesichert. Nur den Schwarzarbeitern, die keine Zeit für die kommunale Beschäftigung haben, geht es schlechter, aber das ist hinnehmbar, um es höflich auszudrücken.
Woher sollen die Gemeinden denn die Arbeit nehmen, ohne der Privatwirtschaft Konkurrenz zu machen?
Sinn: Die Gemeinden sollen das Recht haben, die ihnen anvertrauten Arbeitnehmer auf dem Wege über Honorarverträge meistbietend an die Privatwirtschaft zu verleihen. Irgendeinen von Null verschiedenen Honorarsatz wird es geben, zu dem die Wirtschaft Interesse hat, Stellen zu schaffen. Wie niedrig der Satz ist, kann den Betroffenen egal sein, weil sie ja einen festen Lohn von der Gemeinde erhalten.
Kommt innerhalb Deutschlands die Angleichung der Lebensverhältnisse von Ost, und West?
Sinn: Ja. Und zwar dann, wenn wir weniger drängeln. Wenn man zwanghaft versucht, die Löhne anzuheben, obwohl der Markt und die Produktivität das nicht hergeben, wird man mit Arbeitslosigkeit bestraft. Dann stockt der Angleichungsprozess. In nur 15 Jahren sind die Einkommen bei mehr als 80 Prozent des Westens angekommen, die gesetzlichen Renten gar bei 110 Prozent, doch die gesamtwirtschaftliche Produktivität stagniert unter 60 Prozent. Wir wollten zu viel und zu schnell, und deshalb geht bald gar nichts mehr.
Interview: Christoph Stangen