"Es ist genau andersherum"

Interview mit Peter Bofinger und Hans-Werner Sinn, DER SPIEGEL, 06.12.2004, S. 94-100

SPIEGEL-STREITGESPRÄCH

SPIEGEL: Herr Bofinger, Herr Sinn, weltweit boomt die Wirtschaft, nur in Deutschland kommt sie nicht in Fahrt. Warum?

Bofinger: Deutschland leidet an einer gravierenden Schwäche der inländischen Nachfrage. Das hat vor allem damit zu tun, dass Kaufkraft fehlt: Seit Jahren hinken die Lohnerhöhungen hinter den Produktivitätsfortschritten her, das darf nicht so weitergehen. So gerät die Volkswirtschaft immer tiefer in die Krise. Wenn der Bauer will, dass ihm seine Kuh anständig Milch gibt, muss er dafür sorgen, dass sie auch genug zu fressen hat.

Sinn: Er darf die Kuh aber auch nicht schlachten. Wir haben hinter Norwegen die höchsten Lohnkosten auf der Welt. Die deutschen Arbeitnehmer sind nicht mehr wettbewerbsfähig. Sie merken das, haben Angst vor Entlassungen und kaufen keine langlebigen Konsumgüter mehr. Aus dem gleichen Grunde investieren die Unternehmer nicht mehr. Die Investitionsgüter nachfrage ist viel zu niedrig für einen Exportboom wie diesen. Die Löhne weiterhin kräftig zu erhöhen wäre der falsche Weg.

Bofinger: Das predigen Sie nun seit Jahren. Und was hat es gebracht? Wir haben in drei Jahren mehr als eine Million sozialversicherungspflichtige Jobs verloren. Überall wird immer nur gespart, es wird ein regelrechter Kult darum getrieben, alle orientieren sich am Prinzip des "Geiz ist geil", als wäre es die Lösung aller Probleme. Schauen Sie mal, wie robust sich in Frankreich die Wirtschaft entwickelt: Dort hat der Staat seine Ausgaben in den letzten Jahren stetig ausgeweitet, die Löhne sind im Schnitt um fast einen Prozentpunkt stärker gestiegen als bei uns, die Binnenkonjunktur ist dadurch deutlich angesprungen.

SPIEGEL: Sparen ist doch auch eine Tugend?

Bofinger: Richtig, aber viele Arbeitnehmer sparen derzeit vor allem aus Angst. Sie fürchten um ihren Job und sind verunsichert, weil soziale Sicherungsmechanismen abgebaut werden. Hartz IV gibt ihnen das Gefühl, mit einem Bein auf einer schiefen Ebene zu stehen und schnell den Punkt zu erreichen, an dem ihr gesamtes Vermögen in Anspruch genommen wird.

Sinn: Die Angst hat reale Ursachen. Die Deutschen haben geglaubt, der Sozialstaat währe ewig, und die Löhne könnten in den Himmel wachsen. Jetzt wachen sie aus ihrem Traum auf, erkennen die Realität und wollen in ihrer Katerstimmung weder frühstücken noch Bäume ausreißen.

Bofinger: Was für eine Perspektive bieten Sie ihnen auch? Länger arbeiten, weniger Lohn, geringere soziale Absicherung. Da muss man doch Angst bekommen.

Sinn: Das biete nicht ich, das ist die Realität in einem Land, das die Zwänge der Globalisierung zu spät erkannt hat.

Bofinger: Aber was folgt daraus? Nehmen Sie die soziale Absicherung: Wenn der Staat immer mehr Eigenverantwortung vom Einzelnen fordert, muss jeder mit größeren Risiken zurechtkommen. Die kann er nur abfedern, indem er spart. Er kauft sich kein Auto - deshalb leidet Opel. Er kauft sich kein Haus - deshalb leidet die Bauwirtschaft. Daher ist es so wichtig, die Nachfrage zu stimulieren. Selbst von Unternehmern hört man immer wieder, dass die Höhe der Lohnkosten gar nicht so entscheidend ist, sondern die Dicke der Auftragsbücher.

Sinn: Der Export boomt. Mehr Nachfrage könnte auch Herr Eichel nicht erzeugen, wenn er dürfte, wie er will. Das Problem ist, dass der Rest der Wirtschaft nicht mitmacht. Erklären Sie mal, warum General Motors eher in Deutschland Arbeitsplätze abbaut als in Schweden? Ich sage es Ihnen: Weil dort ein Arbeiter 23 Euro die Stunde kostet, und hier sind es 27 Euro. Die Entscheidung, wo produziert wird, hängt maßgeblich von den Lohnkosten ab.

Bofinger: Sie schauen immer nur auf einen Teil der Volkswirtschaft, nämlich die Exportindustrie, Sie müssen die gesamte Wirtschaft betrachten. Natürlich nimmt der Export einen besonderen Stellenwert in Deutschland ein - aber der Binnenmarkt ist noch weitaus wichtiger. Die deutsche Industrie setzt mehr als 6o Prozent ihrer Produkte am eigenen Standort ab.

Sinn: Ähnliches gilt auch im Inneren. Die Geringqualifizierten sind auch deshalb arbeitslos, weil sie ihren Mitbürgern zu teuer sind. Aber die äußeren Einflüsse sind massiv. Die Niedriglohnkonkurrenz steht heute direkt vor der Haustür in Osteuropa, gleichzeitig drängt China mit Macht auf den Weltmarkt. Die Globalisierung erzeugt einen ungeheuren Lohndruck, ob es uns gefällt oder nicht. Wenn wir das Lohnkarussell nicht bremsen, entsteht immer mehr Arbeitslosigkeit.

SPIEGEL: Die deutschen Unternehmen kommen mit dem Wandel der Weltwirtschaft offenbar ganz gut zurecht: Nie haben sie so gut verdient wie heute.

Sinn: Die Dax-Unternehmen, die Sie meinen, verdienen im Ausland statt im Inland.

Bofinger: Es geht doch um etwas ganz anderes: Was stellen die Unternehmen mit den Gewinnen an? Sie schütten das Geld an die Aktionäre aus, sie zahlen Kredite zurück - nur die Arbeitnehmer haben nichts davon und genauso wenig der Staat, der ja in Form von Lohnsteuer und Sozialabgaben an der Lohnentwicklung partizipiert. Da darf man sich nicht wundem, dass die private wie die öffentliche Nachfrage ausbleibt. Schauen Sie sich mal an, wie sich in anderen Ländern die Nominallöhne entwickelt haben: Mit Ausnahme Japans sind sie überall gestiegen - und überall verzeichnen wir eine bessere Entwicklung des privaten Verbrauchs, der Investitionen, der Beschäftigung.

Sinn: Höhere Löhne verringern die Nachfrage nach Investitionsgütern, weil sie die Gewinnerwartungen reduzieren. Die deutsche Nettoinvestitionsquote ist heute die niedrigste weit und breit. Das Geld wird nicht mehr hier investiert, sondern man schafft es lieber auf den Kapitalmarkt, und dann fließt es ins Ausland. Der deutsche Kapitalexport liegt auf Rekordniveau.

SPIEGEL: Herr Sinn, Sie haben für die deutsche Wirtschaft den Begriff der "Basarökonomie" geprägt, die Vorleistungen im Ausland einkauft, diese zusammenschraubt und dann als "made in Germany" verkauft. Ist das nicht reichlich übertrieben?

Sinn: Das Bild ist eine Karikatur, die den Endpunkt einer problematischen Reise beschreibt. Meine Behauptung war, dass der Wertanteil der Industrieproduktion, der im Inland erzeugt wird, fällt, weil immer mehr ins Ausland verlagert wird.

Bofinger: Das Bild ist einfach falsch. Basarökonomie bedeutet: Produkte, die aus Deutschland exportiert werden, sind überwiegend - sonst hat das Bild keinen Sinn - Produkte, die durchgehandelt werden.

Sinn: Zunehmend, nicht überwiegend.

Bofinger: Dann ist der Begriff falsch. Das Statistische Bundesamt hat festgestellt, dass 62 Prozent eines deutschen Exportgutes deutsche Wertschöpfung sind. Also ist das Exportgut überwiegend ein in Deutschland produziertes Gut.

Sinn: Es hat auch festgestellt, dass dieser Anteil dramatisch fällt.

Bofinger: Der Begriff suggeriert, unsere Exporterfolge seien aufgebläht. Das sind sie nicht. Sie zeigen, wie wettbewerbsfähig die deutsche Wirtschaft ist. Dass im Zuge der Globalisierung ein deutsches Exportgut nicht mehr so deutsch ist, wie es 1960 oder 1980 deutsch war, ist ein völlig normaler Prozess, der sich insgesamt positiv für unsere Wirtschaft ausgewirkt hat.

SPIEGEL: Herr Sinn, ist denn das, was Sie als Basarökonomie bezeichnen, wirklich etwas Negatives? Bislang ist es doch so, dass zwar der Importanteil an den Exporten steigt, aber dieser Effekt wird durch Mehrexporte überkompensiert.

Sinn: Das ist bedeutungslos. Die Wertschöpfung bei den Exporten steigt wegen der Globalisierung überall. Die Entwicklung zur Basarökonomie hilft den Firmen. Die bleiben wegen der Mischkalkulation bei den Löhnen wettbewerbsfähig. Viele Arbeitsplätze, die sonst verloren gegangen wären, bleiben erhalten. Das Boot schwimmt weiter, weil Ballast abgeworfen wird. Die Frage ist nur, ob das so gut ist für diejenigen, die abgeworfen werden.

Bofinger: Deshalb müssen wir die Nachfrage stärken. Überall auf der Welt, wo die Nachfrage dynamisch ist, werden uns unsere Produkte aus der Hand gerissen. Ich wehre mich dagegen, dass unsere Exporterfolge schlechtgeredet werden. Diese Schwarzmalerei verdirbt die Stimmung, und dann läuft natürlich die ganze Wirtschaft nicht mehr.

SPIEGEL: Die deutsche Automobilindustrie hat wie kaum eine andere Branche in Osteuropa Werke aufgebaut - und dennoch in den vergangenen Jahren in Deutschland Arbeitsplätze aufgebaut. Wie passt das in Ihre Theorie, Herr Sinn?

Sinn: Die Autoindustrie hat schon früher verlagert. Der eigene Wertschöpfungsanteil ist dort besonders klein. Insgesamt haben wir im verarbeitenden Gewerbe seit 1991 knapp drei Millionen Arbeitsplätze verloren.

SPIEGEL: Aber das Beispiel der Autoindustrie ...

Sinn: ... an Beispielen können Sie doch gar nichts sehen.

SPIEGEL: Wie bitte?

Sinn: Es gibt auch andere Beispiele. Der Maschinenbau hat eine halbe Million Leute verloren und die Elektrotechnik auch. Wir reden hier über Strukturwandel. Bestimmte Sektoren expandieren, andere schrumpfen. Ob der Gesamtprozess positiv ist, sieht man am Arbeitsmarkt - und nur dort. Der Arbeitsmarkt ist nicht in der Lage, neue Arbeitsplätze für diejenigen zu schaffen, die freigesetzt werden. Das zeigt, dass etwas schief läuft. Und das ist auf die überhöhten und starren Löhne zurückzuführen. Sie erzeugen zu viel Outsourcing und verhindern zugleich, dass anderswo hinreichend viele neue Stellen entstehen.

Bofinger: Es ist genau andersherum. Wir haben die Volkswirtschaft in den vergangenen Jahren nicht angemessen an den Produktivitätsfortschritten partizipieren lassen. Deswegen ist die Nachfrage, der Konsum, zu wenig gestiegen. Wir haben uns in den vergangenen Jahren immer nur darum gekümmert, was gut für den Exportmarkt ist, und dabei haben wir den Binnenmarkt vernachlässigt. Die meisten Arbeitsplätze sind in den letzten Jahren nicht in der Industrie, sondern in den Binnensektoren, Bau und Handwerk, verloren gegangen.

SPIEGEL: Man kann, wie das Beispiel der USA zeigt, die Konjunktur auch anders ankurbeln, durch niedrige Zinsen und hohe Staatsausgaben. Was halten Sie davon, Herr Sinn?

Sinn: Natürlich geht das. Die Amerikaner haben durch Schuldenmachen einen Nachfrageschub von zwei Prozent des Weltsozialprodukts erzeugt. Aber die Amerikaner haben einen funktionierenden Arbeitsmarkt mit einem Konjunkturproblem, wir haben einen kaputten Arbeitsmarkt mit einem Strukturproblem. Nicht alle Krankheiten können mit derselben Medizin geheilt werden.

SPIEGEL: Und das spricht gegen ein solches Konjunkturprogramm, wie es der etwas aus der Mode gekommene Ökonom John Maynard Keynes empfohlen hat?

Sinn: Die Arbeitslosigkeit steigt seit 1970 bis heute fortwährend an. Um einen linear wachsenden Trend schlängelt sich im Zehnjahreszyklus die Konjunktur. Diese Schlängelei kann man durch Nachfrageprogramme glätten, aber den linearen Trend kann man damit nicht brechen.

Bofinger: Wenn Sie den Westen des Landes nehmen - der Osten ist ein Sonderfall -, dann liegt die Arbeitslosigkeit laut der Statistik der Internationalen Arbeitsorganisation nicht sehr viel höher als in Großbritannien oder den USA. Der Unterschied ist jedenfalls nicht so augenfällig, dass man sagen könnte, das ganze System sei schlecht. Westdeutschland ist insgesamt ein extrem leistungsfähiges Land, das die enormen Lasten der Einheit prima bewältigt hat. Die Transfers von West nach Ost sind höher als das Bruttoinlandsprodukt von Ungarn und Tschechien. Das zeigt, dass unser System sehr viel besser ist, als Herr Sinn es darstellt.

Sinn: Sorry, die Trends laufen in entgegengesetzte Richtungen, und in Westdeutschland war die Arbeitslosenquote im letzten Jahr um ein Viertel höher als in den USA und um die Hälfte höher als in England.

SPIEGEL: Welche Rolle spielt der Sozialstaat für die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft?

Sinn: Der Sozialstaat lief, als es nach oben ging, immer artig hinter den Löhnen her. Jetzt, da die Löhne unter Druck kommen, bleibt er stehen. Seine Lohnersatzeinkommen bilden für die Marktlöhne eine untere Barriere. Diese Barriere erzeugt immer mehr Arbeitslosigkeit bei den Geringqualifizierten.

Bofinger: Natürlich ist die Arbeitslosigkeit der Geringqualifizierten ein massives Problem. Aber bevor wir die Sozialhilfe oder das Arbeitslosengeld II noch weiter absenken, würde ich zuerst die Hauptbarriere für Arbeitslose mit geringer Qualifikation abschaffen: die 400-Euro-Jobs. Sie werden einseitig subventioniert, und das führt dazu, dass die Arbeitgeber Vollzeitarbeitsplätze in Teilzeitarbeitsplätze aufsplitten. Es gibt im Augenblick acht Millionen geringfügige Beschäftigungsverhältnisse, das entspricht zwei Millionen Vollzeitarbeitsplätzen.

Sinn: Für mich liegt das Problem in der Lohnkonkurrenz des Sozialstaates, die auch durch Hartz IV nicht abgebaut wird. Denn die Sozialhilfe bleibt unverändert.

SPIEGEL: Die wollen Sie weiter absenken?

Sinn: Das Ifo-Institut hat schon vor Hartz das System der aktivierenden Sozialhilfe vorgeschlagen. Dieses System sieht vor, dass ein Sozialhilfeempfänger weniger Geld vom Staat bekommt, wenn er nicht arbeitet, und mehr, wenn er arbeitet. Bis 400 Euro wird ein freier Hinzuverdienst erlaubt statt nur bis zu 50 Euro wie bei Hartz IV. Die ersten 200 Euro werden zusätzlich bezuschusst. Damit fallen die Lohnansprüche, und Arbeitsplätze werden geschaffen. Es fehlt ja nicht an Menschen, die arbeiten wollen, es fehlt an Arbeitsplätzen. Und Arbeitsplätze fehlen, weil die Lohnansprüche, die durch das Sozialsystem aufgebaut werden, zu hoch sind. Mit Arbeit und Lohnzuschüssen wird es den weniger leistungsfähigen Mitgliedern der Gesellschaft besser gehen, ohne dass der Staat dafür mehr Geld ausgeben muss.

SPIEGEL: Würden Sie die 400-Euro-Jobs auch abschaffen?

Sinn: Man braucht sie dann nicht mehr.

Bofinger: Ich glaube nicht, dass man die Sozialhilfe oder das Arbeitslosengeld II absenken muss. Die meisten Menschen sind arbeitswillig, auch zu den geltenden Löhnen. Als Hauptbeispiel für die negative Anreizwirkung der Sozialhilfe wird die Familie mit zwei Kindern genannt. Da ist der Abstand zwischen Sozialhilfe und niedrigem Nettoeinkommen oft marginal. Tatsache aber ist, dass es unter den Sozialhilfeempfängern nur relativ wenige Familien mit zwei oder mehr Kindern gibt.

Sinn: Die Lohnkonkurrenz des Sozialstaates reicht auch bei einem Ehepaar ohne Kinder bis zu einem Einkommen von 1600 Euro. Die gesamte Lohnskala wird durch diese Konkurrenz von unten her zusammengedrückt. Darum ist Deutschland Weltmeister bei der Arbeitslosigkeit der Geringqualifizierten.

Bofinger: Wenn ich den Menschen die Sozialhilfe kürze und sie arbeiten müssen, um wieder auf das alte Niveau zu kommen, das ja auch nicht so üppig ist, muss ich ihnen eine Arbeitsgelegenheit bieten. Die Frage ist, ob es diese Jobs wirklich gibt. Das ist ja auch das Problem bei Hartz IV. Außerdem besteht die Gefahr von Mitnahmeeffekten: Ein Malermeister, der bislang Gesellen zum regulären Tarif angestellt hat, könnte geneigt sein, sie durch einen vom Staat subventionierten Sozialhilfeempfänger zu ersetzen. Deshalb mein Vorschlag: Probieren wir doch erst einmal das Einfachere: Schaffen wir die 400-Euro-Jobs ab und schauen, was passiert.

SPIEGEL: Herr Sinn, niedrigere Löhne, weniger Sozialstaat, mehr sparen - haben Sie keine Angst vor Deflation und Depression?

Sinn: Weder empfehle ich Sozialabbau noch Einkommenssenkungen. Doch sollten wir länger arbeiten für das gleiche Geld. Das wirkt wie technischer Fortschritt, der den Faktor Arbeit leistungsfähiger macht. Über die Gewinne, die die Unternehmen zusätzlich machen, entsteht zusätzliche Nachfrage nach Investitionsgütern, die bis auf den letzten Cent genauso groß ist wie die Mehrproduktion. Da der Kapitalbestand besser ausgenutzt wird, gibt es einen starken Wachstumsschub. Und mehr Stellen gibt es auch, weil jeder Arbeiter dem Unternehmer mehr Ertrag bringt, ohne mehr zu kosten. Alle werden profitieren.

SPIEGEL: Höhere Löhne, mehr Staatsausgaben - führt Ihr Konzept nicht zu Inflation und Arbeitsplatzabbau, Herr Bofinger?

Bofinger: Ich plädiere ja nicht für eine verantwortungslose, sondern für eine produktivitätsorientierte Lohnpolitik. Und davon würden über die Sozialabgaben und die Lohnsteuer auch die Staatsfinanzen i profitieren. Das schafft Spielräume für eine stetige Finanzpolitik.

SPIEGEL: Wie die Reformen auch weitergehen: Vorerst ist, wegen des Dollar-Verfalls, eher ein Wachstumsdämpfer zu erwarten. Wie gefährlich ist die Dollar-Krise?

Bofinger: Wir machen jedes Jahr Reformen mit dem Ziel, unsere Wettbewerbsfähigkeit durch Senkung der Lohn- und Lohnnebenkosten zu verbessern, wie Herr Sinn das ja vorschlägt. Diese Reformen sind äußerst mühsam. Und dann werden diese ganzen Einsparungen binnen weniger Wochen durch die Wechselkursentwicklung wieder aufgefressen. Das kann doch nicht sein.

SPIEGEL: Also soll die Europäische Zentralbank (EZB) intervenieren?

Bofinger: Eindeutig ja. Viele andere Notenbanken machen das ja bereits, um Nachteile für ihre Wirtschaft zu vermeiden. Wenn wir nicht mitziehen, sind wir die Dummen, weil wir dann nicht nur gegenüber dem Dollar, sondern auch gegenüber den asiatischen Ländern, die sich anders verhalten, aufwerten.

Sinn: Auf dem Wege über die Wechselkurse beeinflussen erratische internationale Bewegungen des Finanzkapitals das reale Wirtschaftsgeschehen häufig in einem kaum noch erträglichen Umfang. Deshalb sollte die EZB intervenieren und den Wechselkurs glätten.

SPIEGEL: Herr Bofinger, Herr Sinn, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Das Gespräch moderierten die Redakteure Alexander Jung und Armin Mahler.

Die Ökonomen

Hans-Werner Sinn und Peter Bofinger gehören zu den renommiertesten Vertretern ihrer Zunft in Deutschland. Sinn, 56, seit 1983 Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft in München, steht seit fünf Jahren an der Spitze des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung. Im vergangenen Jahr veröffentlichte er den Bestseller "Ist Deutschland noch zu retten?" Sein Kollege Bofinger, 50, Professor für Volkswirtschaftslehre in Würzburg, ist seit März Mitglied im Sachverständigenrat der Bundesregierung, er war auch als Bundesbankpräsident im Gespräch. Bofinger wird der keynesianischen Schule zugerechnet, die der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage besondere Bedeutung beimisst. Sein gerade erschienenes Buch "Wir sind besser, als wir glauben - Wohlstand für alle" liest sich wie eine Replik auf Sinn.