"Ich will Deutschland retten"

MEDIEN-MONITOR, 01/2005

Interview mit Prof. Dr. Dr. h.c. Hans-Werner Sinn, Präsident des ifo Instituts für Wirtschaftsforschung

Prof. Dr. Dr. h.c. Hans-Werner Sinn ist Präsident des ifo Instituts für Wirtschaftsforschung (seit 1999), Direktor des Center for Economic Studies (CES) der Ludwig-Maximilians-Universität München (seit 1991), Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft, Ludwig-Maximilians-Universität München (seit 1984) und Geschäftsführer der CESifo GmbH (seit 1999). Wie kein Zweiter prägt er die wirtschaftspolitische Diskussion in Deutschland - streitbar, klar in der Sprache und manchmal auch unbequem in der Sache. Wir fragten ihn nach Auswegen aus der Wachstumskrise, in der Deutschland nun schon seit einigen Jahren dahintreibt.

MEDIEN-MONITOR: Herr Prof. Sinn, die öffentlichen Haushalte stecken in der Schuldenfalle, ein europäischer Nachbar nach dem anderen zieht beim Pro-Kopf-Einkommen an uns vorbei. Ist Deutschland noch zu retten oder muss in den neuen Bundesländern erst von neuem der Putz von den Wänden fallen, bevor wir aufwachen und die notwendigen Reformen endlich auf den Weg gebracht werden?

Sinn: Es ist schon erstaunlich, wie wenig Rückhalt die Bundesregierung für ihre kleinen und wirklich sehr nötigen Reformen bislang bekommen hat. Das stimmt durchaus pessimistisch. Anderseits dürfen wir auch optimistisch in die Zukunft blicken, da zumindest überhaupt etwas in Deutschland passiert, mehr auf jeden Fall, als man es vor zwei Jahren für möglich hielt. Wenn sich also die Bereitschaft zu Reformen weiterhin verbessert, dann ist noch einiges zu erwarten.

MEDIEN-MONITOR: Was ist denn von der Diskussion über die Verlängerung der Wochenarbeitszeiten ohne Lohnausgleich zu halten. Ist es tatsächlich so, dass wir in Deutschland durchweg länger arbeiten müssen, um unsere Arbeitsplätze zu sichern oder brauchen wir nicht viel eher eine stärkere Spreizung der Löhne zwischen den verschiedenen Branchen, Regionen und Lohngruppen?

Sinn: Wir brauchen beides: Mehr Flexibilität und in bestimmten Bereichen müssen die Löhne pro Stunde sicherlich fallen, was man dadurch am leichtesten erreicht, dass für das gleiche Geld länger gearbeitet wird. Das ist der Königsweg zur Verbesserung der Kostensituation der Unternehmen. Die Entwicklung sollte flächendeckend sein, da das einzelne Unternehmen dann auch mehr Nachfrage seitens der anderen Unternehmen auf sich zukommen sieht. Es wird ein unmittelbarer Wachstumsschub erzeugt, denn die vorhandenen Maschinen und Gebäude können besser ausgenutzt werden. Und die Beschäftigung wird sich ebenfalls in einem zweiten Schritt - wie das auch bei einer Geldlohnsenkung der Fall wäre - erhöhen.

MEDIEN-MONITOR: In den Vereinigten Staaten ist während des Präsidentschaftswahlkampfs eine heftige Kontroverse über die Verlagerung von Arbeitsplätzen in Offshore-Regionen entbrannt. Gregory Mankiw, Ex-Wirtschaftsberater von Präsident Bush, hatte in dieser Diskussion die Auffassung vertreten, die USA würden langfristig von dieser Entwicklung profitieren. Wie stehen Sie zu dieser Frage vor dem Hintergrund der Standortdiskussion in Deutschland?

Sinn: Für die USA halte ich diese These für begründbar, für Deutschland trifft sie unter den gegebenen Rigiditäten des Arbeitsmarktes nicht zu. Die Amerikaner haben flexible Löhne, die es bei uns so nicht gibt. In Deutschland finden die durch Outsourcing freigesetzten Industriearbeiter in anderen Sektoren der Wirtschaft keine neuen Stellen, in den Vereinigten Staaten dagegen sehr wohl. Bei uns entsteht Arbeitslosigkeit, weil unsere Löhne nach der Freisetzung von Arbeitskräften in der Industrie nicht sinken, wie es bei funktionierenden Arbeitsmärkten der Fall wäre. Sinkende Löhne würden das Outsourcing begrenzen und im Dienstleistungssektor neue Jobs entstehen lassen. Arbeitslosigkeit könnte nicht entstehen. In Deutschland ist es leider so, dass die in der Industrie in den letzen acht Jahren freigesetzten Arbeitsplätze, nur zu einem kleinen Bruchteil, nämlich einem Siebtel, im Rest der Wirtschaft wieder entstanden sind.

MEDIEN-MONITOR: Welches Ausmaß hat der Exodus deutscher Unternehmen inzwischen erreicht und was bedeutet "Outsourcing" und "Offshoring" eigentlich für die deutschen Arbeitnehmer, die ihrem Betrieb bei der Standortverlagerung ja nur selten folgen können?

Sinn: Outsourcing verhindert vielfach Pleiten und verringert damit den Arbeitsplatzverlust, der ohne Outsourcing einträte. Gleichwohl verschwinden immer mehr Arbeitsplätze. Outsourcing kann zwar grundsätzlich als Ergebnis einer Verbesserung der internationalen Arbeitsteilung angesehen werden, aber nicht immer stimmt das, was grundsätzlich richtig ist, wirklich. Von einer Verbesserung der internationalen Arbeitsteilung könnte man dann sprechen, wenn die Deutschen die "dreckige" Industrieproduktion auf die Chinesen und die Polen abschieben würden, um sich den angenehmeren Tätigkeiten im Dienstleistungssektor zu widmen. So ist es aber nicht. Anstatt in höherwertige Tätigkeiten überzuwechseln, gehen die entlassenen Industriearbeiter größtenteils zum Sozialstaat in die Arbeitslosigkeit.

MEDIEN-MONITOR: Ist der Trend zur Verlagerung von Arbeitsplätzen eigentlich umkehrbar? Was kann ein Land wie Deutschland den neuen EU-Mitgliedsstaaten in punkto Arbeitskosten und Steuern entgegensetzen?

Sinn: Ich denke, dass ist keine Frage des Umkehrens, sondern eine Frage der Geschwindigkeit. Der Trend zur Verlagerung geht ganz einfach zu schnell. Er lässt sich verlangsamen, wenn die Löhne flexibler werden und dem Lohndruck nachgeben.

MEDIEN-MONITOR: Wollen Sie denn wirklich, dass wir mit den Tschechen, den Polen und den Chinesen bei den Löhnen konkurrieren?

Sinn: Wir haben nicht die Wahl, mit den genannten Ländern zu konkurrieren oder nicht. Konkurrenz ist kein Spiel, bei dem man sich entscheiden kann mitzumachen. Wir müssen selbstverständlich nicht mit unseren Löhnen auf das tschechische Niveau herunter. Wir können vielmehr so viel teuerer bleiben wie wir besser sind. Aber derzeit sind wir sieben Mal so teuer. Ich glaube nicht, dass wir sieben Mal so gut sind.

MEDIEN-MONITOR: Die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe durch Hartz-IV bringt den wohl umfassendsten Sozialabbau in der deutschen Nachkriegszeit. Langzeitarbeitslose müssen künftig teilweise mit empfindlichen finanziellen Einbußen rechnen. Kommt es jetzt zu dem dringend notwendigen Beschäftigungsschub im Niedriglohnsektor?

Sinn: Es wird einen kleinen Beschäftigungseffekt geben, weil sich die bisherigen Arbeitslosenhilfeempfänger mehr regen müssen. Sie müssen jetzt bereit sein, zu niedrigeren Löhnen zu arbeiten; und zu niedrigeren Löhnen gibt es auch Jobs. Wie viele arbeitslose Menschen allerdings durch Hartz-IV neue Arbeit finden, ist unklar. Es gibt nach wie vor durch das Arbeitslosengeld II eine erhebliche Schranke für die Beteiligung am Arbeitsmarkt, denn der Transferentzug, also die Wegnahme dieses Geldes bei einer Arbeitsaufnahme, ist schon erheblich. Um die Arbeit aufzunehmen und auf Arbeitslosengeld zu verzichten, braucht man einen sehr hohen Lohn. Der Transferentzug und die Möglichkeit zu arbeiten und dabei auch noch Sozialeinkommen zu behalten sind viel zu restriktiv.

MEDIEN-MONITOR: Können wir die Probleme der deutschen Wirtschaft tatsächlich allein durch Strukturreformen am Arbeitsmarkt lösen?

Sinn: Was heißt hier allein? Die nötigen Reformen sind so umfangreich, dass sie alles, an das wir uns gewöhnt haben, in Frage stellen müssen. Die weltwirtschaftliche Herausforderung in einer Zeit, wo Hunderte von Millionen von Osteuropäern und 1,3 Milliarden Chinesen zusätzlich um das Anlagekapital der Welt streiten, ist gigantisch. Die nötigen Maßnahmen reichen von der aktivierenden Sozialhilfe über den Kündigungsschutz bis zum Tarifrecht und zum Steuerrecht. Wenn ich sehe, wie sich die Parteien bei so einem klitzekleinen Problem wie der Krankenversicherung verbeißen, dann wird mir angst und bange.

MEDIEN-MONITOR: Brauchen wir nicht zusätzlich auch eine aktive Nachfragepolitik?

Sinn: Die Nachfragepolitik, die viele empfehlen, reduziert vielleicht die Arbeitslosigkeit um ein Siebtel, aber sechs Siebtel sind strukturell bedingt. Sehen wir uns doch nur die neuen Länder an, wo der gesamtwirtschaftliche Verbrauch die eigene Erzeugung um 45 Prozent übersteigt. Oder nehmen wir den derzeitigen Exportboom, der uns, getrieben von einer überschäumenden Weltkonjunktur, mehr Nachfrage beschert, als Herr Eichel selbst in seinen kühnsten Träumen nicht zu erzeugen gewagt hätte. Beides sind riesige Nachfrageschübe, und trotzdem läuft die Wirtschaft nicht.

MEDIEN-MONITOR: Strukturreformen zeigen ihre positive Wirkung häufig erst mit einer gewissen Verzögerung. Kurzfristig sind dagegen sogar negative Effekte denkbar. Wer als Politiker die "Saat der Reform" ausbringt, hat deshalb noch lange nicht die Gewissheit die "Ernte einzufahren". Liegt ein Problem der Wirtschaftspolitik auch im richtigen Timing von Reformprozessen?

Sinn: Ganz recht. Die Demokratie ist kurzsichtig, denn Politiker haben im Durchschnitt einen Zeithorizont von zwei Jahren. Sicherlich werden die positiven Effekte solcher Reformen nicht innerhalb eines Zeitraums von zwei Jahren im erheblichen Umfang zu spüren sein.

MEDIEN-MONITOR: Angenommen alles läuft einfach so weiter wie bisher: Wo steht unser Land in zehn Jahren?

Sinn: In zehn, zwanzig Jahren wären wir ohne Reformen eines der ärmeren Länder Europas, deutlich unter dem Durchschnitt beim Pro-Kopf-Einkommen. Es würde erhebliche finanzielle und gesellschaftliche Krisen geben, die das Staatssystem belasten. Die ökonomischen Schwierigkeiten wären kaum noch zu meistern. Schon heute machen die Investoren um Deutschland einen großen Bogen, weil sie die überbordenden Soziallasten und die noch nicht in Angriff genommenen Lösungsversuche als Zeichen einer düsteren Zukunft ansehen. Damit sich das Blatt wendet, müssen die Reformen fortgesetzt werden.

MEDIEN-MONITOR: Die Hälfte der Legislaturperiode der Regierung Schröder ist um. Wie sieht Ihre Prognose für Reformprogramme bis zur Bundestagswahl aus?

Sinn: Ich glaube je näher die Wahlen kommen, desto weniger wird passieren. Die Politik wird sich auf die schönen Dinge des Lebens, wie internationale Kontakte oder die Mitgliedschaft in der UNO konzentrieren. Die unangenehmen Probleme werden dagegen eher unter den Tisch gekehrt. Die neu gewählte Regierung hat dann 2006 wieder eine Zeitspanne von zwei Jahren, während derer sie Reformen umsetzen kann. Das geht alles viel zu langsam. Ich halte es für dringend erforderlich, dass sich die gesellschaftlichen Kräfte nun zusammentun, um die anstehenden Probleme gemeinsam zu meistern. Es sollte sofort eine große Koalition geben mit der klaren Wahlaussage, diese Koalition in die nächste Legislaturperiode fortzuführen. Uns läuft die Zeit weg. Das ist das Problem.

MEDIEN-MONITOR: Zum Schluss noch eine persönliche Frage: Woher nehmen Sie die innere Kraft, unermüdlich für unpopuläre Reformen zu werben?

Sinn: Ich bin nun mal Volkswirt, und glaube zu wissen, wovon ich rede. Ich bin nicht der Popularität verpflichtet, sondern der Wahrheit. Ich sehe es meinen Auftrag als Wissenschaftler an, die Öffentlichkeit ohne Vorurteile und frei von politischen Einflussnahmen zu beraten. Ich will Deutschland retten.