Ifo-Chef Sinn über Demografie und Arbeitslosigkeit
Stuttgart - Die Lösung des demografischen Problems ist eine Existenzfrage für Deutschland, sagt Ifo-Chef Hans-Werner Sinn. Dass die Debatte darüber emotional geführt wird, liegt für ihn auf der Hand. "Friede, Freude, Eierkuchen ist hier nicht angesagt", sagt er im Gespräch mit unserer Zeitung.
Herr Professor Sinn, drohen die Deutschen auszusterben, oder schaffen es die Politiker, die demografische Entwicklung herumzureißen?
Weder noch. Die Politik wird an der demografischen Entwicklung nicht viel ändern. Ich sehe keine politischen Kräfte, die die nötigen Maßnahmen ergreifen würden. Aussterben werden wir nicht, aber es ist nun einmal so, dass das deutsche Volk derzeit schneller schrumpft als jedes andere entwickelte Volk dieser Erde.
Den Trend, dass mehr Deutsche sterben, als Kinder geboren werden, gibt es seit 30 Jahren. Auch die Ungerechtigkeiten im Rentensystem für Mütter sind lange bekannt. Warum erregt beides gerade jetzt die Gemüter?
Weil die Baby-Boomer, die jetzt knapp über 40 sind, begreifen, dass ihre Erwartungen, durch das Rentensystem finanziert zu werden, Illusion sind, und weil sie in einem Alter sind, wo man an die Zukunft denkt. Wenn man 30 ist, hat man dafür noch kein Interesse. Deutschland ist das Land der 40-Jährigen; das sind die Baby-Boomer, die Mitte der 60er Jahre geboren wurden. Damals wurden mehr Deutsche geboren als jemals zuvor und wohl auch jemals danach in der deutschen Geschichte.
Die Debatte, wie gegengesteuert werden kann, wird sehr emotional geführt. Die Linie verläuft zwischen Menschen mit Kindern gegen Kinderlose, Doppelverdiener gegen Einverdienerhaushalte, Alt gegen Jung. Was bringt das außer bösem Blut?
Es ist ein schwieriges Thema. Da muss die Gesellschaft sich zu einer Politikentscheidung durchringen, und das geht nur über Diskussionen. Friede, Freude, Eierkuchen ist hier nicht angesagt. Das ist eine Existenzfrage für unser Land.
Das Ifo-Institut fordert, Familien mit Kindern im Vergleich zu Kindern in der Rentenversicherung besser zu stellen. Halten Sie das für realistisch?
Die Umverteilung von den Familien zu den Kinderlosen, die derzeit auf dem Wege über das Rentensystem stattfindet, muss begrenzt werden. Pro Kind liegt der Verlust bei 140 000 Euro, denn so viel zahlt das Kind samt seiner Nachkommen mehr in die Rente, als es wieder herausbekommt. Davon profitieren die Kinderlosen. Auch wenn man alle fiskalischen Effekte inklusive der staatlichen Leistungen für die Kinder und die freie Schulausbildung saldiert, kommt man immer noch auf eine Nettolast von 80 000 Euro pro Kind. So groß ist der Schuldschein, den der Staat dem neugeborenen Kind in die Wiege legt. Dieser Schuldschein ist vom durchschnittlichen Kind später mit Zins und Zinseszins zu bezahlen. Ich glaube, es ist an der Zeit, die Diskriminierung der Familien zu beenden und ihnen deutlich weniger wegzunehmen als bislang.
Lässt sich das Rentensystem überhaupt sinnvoll umbauen? Wäre es nicht ehrlicher, eine steuerfinanzierte Grundrente einzuführen und den Menschen von ihrem Gehalt so viel zu lassen, dass sie privat vorsorgen können?
Die Grundrente wird vermutlich sowieso kommen. Sie muss nicht steuerfinanziert sein, aber sie wird insofern kaum vermeidbar sein, als das durchschnittliche Rentenniveau in 30 Jahren allenfalls auf dem Niveau der heutigen Sozialhilfe liegen wird, wenn man den Beitragssatz und den Bundeszuschuss stabil hält. Da man niemanden weniger als die Sozialhilfe zahlen kann, kann man denjenigen, die überdurchschnittliche Ansprüche haben, vermutlich auch nur den Durchschnitt zahlen. Das ist die Argumentation von Miegel und Biedenkopf, der man sich schwerlich verschließen kann.
Sie vertreten die These, dass unser heutiges System zur Kinderarmut beigetragen hat, weil es den Menschen vorgaukle, sie bekämen schon deshalb eine Rente, weil sie Beiträge zahlen. Andere Länder haben andere Systeme und trotzdem zu wenig Kinder.
Der Hauptgrund für die Kinderlosigkeit in der westlichen Gesellschaft liegt in der Medizin. Man hat heute Verhütungsmittel, die es früher nicht gab. Aber zusätzlich kommt das Rentensystem als Erklärung hinzu. Unter dem Schutze des Rentensystems war es klar, dass man keine Kinder braucht, um im Alter auskömmlich zu leben. Der Onkel oder die Tante, die keine Kinder hatten, kamen auch zurecht. Ein Lebensweg, der vor Bismarck ein ökonomisch unmöglicher Lebensweg gewesen war, wurde plötzlich möglich und hat bis zum heutigen Tage von Generation zu Generation mehr Nachahmer gefunden. Sicher, das war auch in anderen Ländern so. Aber Deutschlands Rentensystem war das erste, und bei uns haben sich deshalb die gesellschaftlichen Normen und Werte viel früher gewandelt als anderswo. Für mich ist das die Erklärung dafür, dass wir in Relation zu unserer Bevölkerung weniger Kinder als jedes andere entwickelte Land dieser Erde haben.
Trotz der Nachwuchsprobleme haben knapp fünf Mio. Menschen keinen Job. Ist die Arbeitslosigkeit nicht das drängendere Problem? Was nützen Kinder, wenn sie keine sozialversicherungspflichtige Stelle finden?
Leider werden heute nicht nur wenige zukünftige Arbeitnehmer, sondern auch wenige zukünftige Arbeitgeber geboren. Es ist naiv, zu glauben, die Jobs fielen vom Himmel und eine Verringerung der Zahl der Kinder liefert einen Beitrag zur Verringerung der Arbeitslosigkeit. Ein Arbeitsverhältnis ist eine Beziehung zwischen einem Menschen, der die Unternehmerfunktion übernimmt, und anderen Menschen, die sich von ihm anstellen lassen. Wenn es uns an Kindern fehlt, fehlt es in 30 Jahren an dynamischen jungen Menschen, die bereit sind, das Wagnis des Unternehmertums auf sich zu nehmen. Unternehmer sind bei der Gründung ihrer Unternehmen im Schnitt 35 Jahre alt. Da heute wenig Kinder geboren werden, werden uns die Unternehmer schneller ausbleiben als die Arbeitnehmer. Die Arbeitslosigkeit wird deshalb eher zunehmen.
Schon heute beschäftigt die Hälfte der Betriebe keine Menschen über 50. Wie lösen Sie das Problem der arbeitslosen Älteren?
Die Älteren werden entlassen, weil der Lohn mit dem Alter steigt, die Produktivität aber allmählich wieder fällt. Die Unternehmen trennen sich dann von ihren Leuten und übergeben sie dem Sozialstaat. Das macht keinen Sinn. Wir brauchen die Älteren schon deshalb, weil es an jungen Menschen fehlt. Wer älter ist, kann vielleicht nicht mehr so powern wie ein Vierzigjähriger, aber er hat viel Erfahrung und Wissen. Man sollte den in die Frührente abgedrängten Menschen deshalb eine zweite Chance geben, indem man ihnen erlaubt, in einem neuen Job weiter zu arbeiten. Diese Erlaubnis wird einen zweiten Arbeitsmarkt für Ältere schaffen, wo zu niedrigerem Lohn neue Jobs entstehen. Das ist nicht nur ökonomisch sinnvoll, sondern auch sozial, denn in der Summe aus Lohn und Rente wird insgesamt ein akzeptables Gesamteinkommen entstehen.
Erwarten Sie wirklich, dass es genügend Jobs geben wird?
Wenn man die Weiterarbeit erlaubt, wird es ein Wunder auf dem deutschen Arbeitsmarkt geben. Der Jobkuchen wird wachsen. Die Unternehmen werden sich bemühen, solche älteren Arbeitnehmer zu halten, denn sie haben sehr viel Wissen und sie werden recht billig sein. Und die Arbeitnehmer werden sich freuen, nicht mehr wie heute ins Abseits abgeschoben zu werden, sondern noch gebraucht zu werden.
Fragen von Sabine Marquar