ifo-Präsident Hans-Werner Sinn im PNP-Interview zu Frühjahrsgutachten, Arbeitslosigkeit und Kapitalismuskritik
Am 27.04.2005 ebenfalls erschienen in: Bremer Nachrichten, S. 3; Donaukurier, S. 2; Nordwest Zeitung, S. 4; Ruhr Nachrichten, S. 4 |
Die Institute haben ihre Wachstumsprognose für 2005 auf nur 0,7 Prozent mehr als halbiert - Aufschwung ade?
Sinn: Der kleine Aufschwung, den wir letztes Jahr hatten, ist schon wieder zu Ende. Wir werden in diesem Jahr deutlich mehr Arbeitslose haben, bald eine halbe Million mehr.
Als Grund nennt die Regierung das Mitzählen der arbeitsfähigen Sozialhilfebezieher . . .
Sinn: Das ist nur die halbe Wahrheit. Nach der Einschätzung der Institute wird es im Jahresmittel durch Hartz IV rechnerisch etwa 210 000 zusätzliche Arbeitslose geben. Zuvor hat die Regierung seit dem Jahr 2003 jedoch circa 230 000 Arbeitslose aus der Statistik verschwinden lassen: 150 000, die von den Arbeitsagenturen etwas härter angefasst wurden und sich dann nicht mehr gemeldet haben. Gut 80 000, die nun nicht mehr mitgezählt werden, weil auf sie Trainingsmaßnahmen angewendet wurden. Ohne die statistischen Sondereffekte, die seit 2003 eingeführt wurden, läge die Arbeitslosigkeit also noch um etwa 20 000 Personen höher. Wir haben bei weitem die höchste Arbeitslosigkeit der Nachkriegszeit. Von einem statistischen Artefakt kann nicht die Rede sein.
SPD-Chef Franz Müntefering entdeckt Auswüchse des Kapitalismus und prangert die Profitgier mancher Unternehmer an.
Sinn: Die Politik kann selbst viel tun, indem sie ihre eigenen Fehler vermeidet. Ich sehe unsere Probleme nicht als Auswüchse des Kapitalismus, sondern als Ergebnis von 30 Jahren überzogener Anspruchspolitik bei Sozialleistungen wie Lohnentwicklung. Die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Arbeitnehmer ist dadurch stark beeinträchtigt worden. Das ist insbesondere jetzt, wo die ehemals kommunistischen Länder beim Welthandel mitmachen, ein Riesenproblem. Die Konsequenz: Das Kapital nutzt seine Optionen, geht nach Osteuropa und Asien. Es ist naiv, das den bösen Kapitalisten vorzuwerfen. Das Kapital geht jetzt zu den Armen dieser Welt, und die freuen sich darüber. Wir waren auch einmal arm. Das deutsche Wirtschaftswunder ist nach dem Krieg durch ähnliche Mechanismen erzeugt worden wie die, die wir jetzt beklagen.
Deutschland wird kaum mit Löhnen in Tschechien oder Rumänien konkurrieren können.
Sinn: Vermeiden lässt sich das nicht. Am Montag ist der Beitritt von Rumänien und Bulgarien zur EU beschlossen worden, Tschechien und viele andere Länder sind bereits drin. Die Politik sollte lieber die Expansion der EU abbremsen, als auf die Kapitalisten zu schimpfen. Wie soll das denn alles werden, wenn im Jahr 2011 die Arbeitnehmerfreizügigkeit für die osteuropäischen Länder gilt? Und was ist, wenn die Türkei mitmacht? Es will mir partout nicht in den Kopf, dass man im Herbst mit großem Nachdruck auf Beitrittsverhandlungen mit der Türkei gedrängt hat und jetzt hysterisch reagiert, wenn ein paar Metzger aus Tschechien herüberkommen. Das ist Schizophrenie.
Was muss die Politik tun, um die Wirtschaft anzukurbeln?
Sinn: Der Arbeitsmarkt ist das Kernproblem. Alles andere sind Nebenkriegsschauplätze, einschließlich der Unternehmensteuerreform. Der Arbeitsmarkt ist total kaputt, weil der Sozialstaat mit seinen Lohnersatzeinkommen die Löhne für einfache Arbeit weit über das Marktniveau hinaus getrieben hat. So wurde Deutschland OECD-Weltmeister bei der Massenarbeitslosigkeit von gering Qualifizierten. Der Sozialstaat muss seine Gelder mehr für Lohnzuschüsse nutzen statt als Lohnersatz. Statt Nichtstun zu 100 Prozent zu alimentieren, ist es besser, niedrige Löhne mit einem staatlichen Zuschuss aufzubessern. Nur so lassen sich Stellen und Einkommen verteidigen. Mindestlohnschranken verteidigen nur die Einkommen, nicht aber die Stellen. Was nützen hohe Löhne, wenn man sie gar nicht bezieht? Durch eine umfassende Mobilisierung des Arbeitsmarktes ließe sich mittelfristig ein zusätzliches Wirtschaftswachstum von einem Prozent erreichen.
Wie wichtig wäre eine schnelle Senkung der Körperschaftsteuer auf 19 Prozent?
Sinn: Ich halte die Maßnahme für richtig. Doch gibt es keinen Anlass, jetzt irgendwelche Schnellschüsse zu machen. Wir brauchen eine umfassende Reform der Unternehmensbesteuerung auch für die Kleinbetriebe. Steuersenkungen allein für die Kapitalgesellschaften reichen nicht.
Interview: Christoph Slangen