Hans-Werner Sinn im Interview.
Der Präsident des Ifo-Instituts, Hans-Werner Sinn, über den Kombilohn der Union, die Vorschläge der SPD zu einer negativen Einkommensteuer und die Vorteile eines Investivlohns.
WirtschaftsWoche: Herr Professor Sinn, die Arbeitslosigkeit sinkt, die Lohnnebenkosten ebenfalls, und dank einer guten Konjunktur steigt die Beschäftigung deutlich an. Wäre es jetzt nicht an der Zeit, die bereits durchgeführten Arbeitsmarkt-Reformen wirken zu lassen, anstatt in neuen Aktionismus zu verfallen?
Sinn: Dass die bisherigen Reformen nicht reichen, ist offenkundig. Wir brauchen weit mehr. Jede Reform führt anfangs zu einem gewissen Durcheinander und zu Belastungen. Wann, wenn nicht im Boom, wäre die Zeit günstig, diese Belastungen zu tragen?
Gegenwärtig streitet die große Koalition über Kombilohn, Mindestlohn, Investivlohn und seit Neuestem auch über eine negative Einkommensteuer. Können Sie in dem bunten Strauß von Vorschlägen ein Reformmuster erkennen?
Nein, zumal nicht alle Vorschläge zueinanderpassen. Ein Mindestlohn widerspricht dem neuen SPD-Vorschlag einer negativen Einkommensteuer. Aber negative Einkommensteuer und Investivlohn würden zusammenpassen. Vom Kombilohn im Sinne einer Zahlung an die Unternehmen halten die meisten Ökonomen, ich selbst eingeschlossen, herzlich wenig.
Welches dieser Themen ist das wichtigste, um den Arbeitsmarkt zu beleben?
Das ist ohne Zweifel die negative Einkommensteuer, weil diese die Arbeitslosigkeit am unteren Ende der Qualifikationsskala am wirksamsten bekämpft. Da haben wir das größte Problem, Deutschland ist unter den OECD-Ländern Weltmeister bei der Arbeitslosigkeit gering Qualifizierter. Aber man muss schon weit über das hinausgehen, was die SPD jetzt vorschlägt.
Weshalb ist die negative Einkommensteuer dem Kombilohn, wie ihn die Union vorschlägt, überlegen?
Wenn man die Kosten von Lohnzuschüssen im Griff halten möchte, kann man nicht alles machen. Man hat die Wahl zwischen einer Förderung von Teilen aller Arbeitsmärkte oder einer Vollförderung eines Teils der Märkte. Neue Stellen gibt es nur, wenn alle Arbeitnehmer auf dem jeweiligen Arbeitsmarkt billiger werden, denn die teuersten sind immer die Grenzanbieter, deren Kosten allein die Zahl der Jobs festlegt. Das schließt den Kombilohn aus. Er bezuschusst die Langzeitarbeitslosen, egal, auf welchen Gehaltsstufen sie sich anbieten. Da die Langzeitarbeitslosen nur eine Teilmenge der in diesen Stufen tätigen Arbeitnehmer sind, ist ein Drehtüreffekt unvermeidlich. Die Arbeitgeber ersetzten ihre bisherigen Beschäftigten durch billigere Arbeitskräfte, anstatt neue Stellen zu schaffen. Die negative Einkommensteuer bezuschusst hingegen nur die niedrigen Einkommen, das aber für alle, die ihre Leistungen auf den Niedriglohnmärkten anbieten. Sie führt auf diesen Märkten zu einer flächendeckenden Lohnsenkung und schafft dadurch mehr Beschäftigung.
Die Idee der negativen Einkommensteuer ist nicht neu - nur wurde nie was daraus. Warum soll das jetzt anders sein?
Anders ist, dass jetzt auch die SPD dafür ist. Die Union selbst hat ja die negative Einkommensteuer als "Wisconsin-Modell" propagiert. Noch im Herbst 2003 hat auch der Bundesrat das darauf basierende Existenzgrundlagengesetz mehrheitlich gutgeheißen. Also, die Union soll doch bitte schön bei ihren Beschlüssen bleiben und die komische Variante des Kombilohns, die sie neuerdings propagiert, so schnell wie möglich verschwinden lassen.
Bisher scheiterte die negative Einkommensteuer an den Befürchtungen, sie würde die Löhne drücken und zu übermäßig hohen Steuerausfällen führen.
Dass die Löhne sinken, ist ja gewünscht und notwendig, denn nur so entstehen zusätzliche Jobs. Dies führt aber zu keinem Einkommensverlust, weil die sinkenden Löhne ja durch die Steuergutschriften ausgeglichen werden.
...was den Staat Geld kostet.
Richtig, wenn man sonst nichts macht. Alle seriösen Vorschläge sehen deshalb vor, dass die Lohnersatzleistungen für diejenigen, die arbeitsfähig sind, aber nicht arbeiten, obwohl es Jobs gibt, gesenkt werden.
Was muss konkret geschehen?
Das Arbeitslosengeld II ist bereits eine negative Einkommensteuer, nur eine sehr schlechte. Man muss den Tarifverlauf verändern, um die von ihm implizierten Mindestlohnansprüche zu senken. Dazu muss die Hinzuverdienstmöglichkeit drastisch verbessert und der Eckregelsatz deutlich gesenkt werden. Damit niemandes Lebensstandard sinkt, muss man ferner jedem als Notanker die Möglichkeit bieten, das Arbeitslosengeld II in heutiger Höhe weiter zu beziehen, wenn er dafür acht Stunden am Tag für die Gemeinde arbeitet oder sich über Zeitarbeitsfirmen zu einem frei aushandelbaren Honorarsatz an die Privatwirtschaft vermitteln lässt. Wenn man ein solches Programm realisiert, wird die Arbeitslosigkeit in Deutschland verschwinden, und zwar überall, nicht nur bei den gering Qualifizierten. Und das schöne ist: Es kostet den Staat keinen Cent, wenn man es so macht, wie Ifo mit seiner Aktivierenden Sozialhilfe vorschlägt.
Brauchen wir einen Mindestlohn?
Gott bewahre! Er würde alles kaputt machen. Die negative Einkommensteuer schafft ja nur Jobs, weil sie es den Menschen ermöglicht, mit weniger Löhnen auszukommen. Und in den sinkenden Löhnen besteht der Anreiz für die Unternehmen, diese Jobs zu schaffen. Ein Mindestlohn würde diesen zentralen Mechanismus blockieren.
In den USA gibt es aber einen solchen Mindestlohn.
Ja gut. Der liegt bei gerade einmal einem Drittel des Durchschnittslohns und damit bei etwa der Hälfte dessen, was die EU als Armutsgrenze definiert. In Ländern, in denen der Mindestlohn so niedrig ist, dass er das Marktgeschehen nicht beeinträchtigt, ist er natürlich unschädlich. Wohin aber ein zu hoher Mindestlohn führt, können wir in Frankreich sehen. Der Mindestlohn, der bei Jugendlichen in der Höhe von 80 bis 90 Prozent ihres normalen Lohnes liegt, hat dort zu der erschreckenden Jugendarbeitslosigkeit geführt, die für die Krawalle in den Vorstädten verantwortlich ist. Andere Länder in Europa, die einen recht hohen Mindestlohn haben, werden sich noch wundern, welche Schwierigkeiten sie kriegen, wenn die Kräfte der Globalisierung noch stärker wirken und die internationale Niedriglohnkonkurrenz den Arbeitsmärkten noch mehr zusetzt, als dies jetzt schon der Fall ist.
Um den Druck der Giobalisierung auf das Lohnniveau abzufedern, setzen Sie unter anderem auf die Einführung eines Investivlohns. Wie soll das gehen?
Wir leben in einer Zeit, in der die Löhne der Arbeiter nach unten angepasst werden müssen, um Arbeitsplätze zu halten oder neue zu schaffen. Das wird aber verständlicherweise von denjenigen blockiert, die auf ihren Arbeitskontrakt pochen und ihr Lohnniveau halten wollen. Man könnte nun diese Ansprüche akzeptieren und eine längerfristige Lohnmäßigung durch eine entsprechende Beteiligung am Unternehmen, also durch einen Investivlohn, belohnen. Dann haben wir zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Der Verlust der Insider wird kompensiert, und die Lohnanpassung nach unten schafft neue Jobs.
Die große Koalition will jetzt solchen Beteiligungen grundsätzlich die Tür öffnen. Eine gute Idee?
Unbedingt. Es wäre gut gewesen, die Gewerkschaften hätten sich schon in den Sechzigerjahren darauf eingelassen. Statt für die Mitbeteiligung, haben sich die Gewerkschaften damals für die Mitbestimmung ausgesprochen. Das hat den Gewerkschaftlern zwar Aufsichtsratsposten verschafft, war aber dennoch aus Sicht der Arbeitnehmer ein schwerer historischer Fehler. Auf dem Wege der Mitbeteiligung hätten erhebliche Vermögen aufgebaut werden können. Nehmen Sie das Beispiel von Siemens, wo Investivlöhne eingeführt wurden. Hätte ein Arbeitnehmer sämtliche Optionen der Kapitalbeteiligung wahrgenommen, hätte er jetzt rund 1000 Euro zusätzliche Rente pro Monat.
Im Fall Siemens mag das stimmen. Aber wenn es schief geht, tragen Arbeitnehmer ein doppeltes Risiko - zum Arbeitsplatzverlust kommt der Verlust der Einlage hinzu.
Neben der Motivationsverbesserung verweise ich auf das Argument des Sachverständigenrates von Anfang der Siebzigerjahre: Aus Sicht des Unternehmens bedeutet die Beteiligung der Arbeitnehmer eine Streuung des Risikos. Das Risiko wird auf mehr Schultern verteilt. Das ermuntert die Unternehmenseigner, neue Investitionen zu wagen, was mehr Gewinne und mehr Jobs verspricht.
Warum sollten dann Arbeitnehmer dieses Risiko tragen?
Er würde dafür belohnt, weil ein Teil der Gewinne ihm gehört. Zusätzlich zum Arbeitslohn und zur normalen Kapitalverzinsung würde er auch noch eine Risikoprämie verdienen.
Brauchen wir dafür den Staat?
Arbeitnehmer brauchen eine gewisse Ermunterung und Hilfestellung, diesen Weg zu gehen. Man muss sie zum Investieren erziehen. Deswegen plädiere ich für eine nachgelagerte Besteuerung der Investivlöhne. Daneben muss es gewisse rechtliche Rahmenbedingungen geben, die sicherstellen, dass die Investivlohnbeträge bei einem Jobwechsel mitgenommen werden können. Außerdem muss man Regelungen für Unternehmen treffen, die keine Aktiengesellschaften sind. Hier müssen die entsprechenden Instrumente zum Teil noch geschaffen werden. Und da ist der Gesetzgeber gefordert.