Hans-Werner Sinn im Interview.
Hans-Werner Sinn, Präsident des Ifo-Instituts, über die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland und überfällige Reformen
Die Wirtschaft wächst kräftig, die Arbeitslosigkeit sinkt - steht die deutsche Wirtschaft vor einer neuen Blütezeit? Sind weitere Reformen überflüssig? Fragen an den Präsidenten des Münchener lfo-lnstituts, Hans-Werner Sinn.
VDI nachrichten: Herr Professor Sinn, 2006 war das Jahr des Aufschwungs. Wie geht es in diesem Jahr weiter?
Sinn: Wir erwarten im ersten Quartal einen leichten Rückgang des gesamtwirtschaftlichen Wachstums. Das bestätigt auch der jüngste Ifo-Geschäftsklimaindex. Aber die Aussichten werden nach wie vor sehr gut beurteilt. Aus dem zunächst leichten Zittern wird also kein Beben: Die Situation bleibt ruhig und stabil - auf hohem Niveau.
VDI nachrichten: Was stützt die positive Entwicklung?
Der Export. Wir erwarten 2007 eine Zunahme um 7 %. Und dann natürlich die Investitionen, die bereits seit eineinhalb Jahren anziehen. Im binnenwirtschaftlichen Bereich sind sie der wesentliche Motor des Aufschwungs, wobei das Niveau der Investitionen noch nicht befriedigt.
VDI nachrichten: Läuft der Aufschwung im kommenden Jahr aus?
Nein, wir glauben, dass er 2008 anhält. Der Prozess der Erneuerungsinvestitionen wird - dem Zyklus entsprechend - auch noch im. nächsten Jahr wirken. Mit etwas Glück könnte der Aufschwung bis zum Ende des Jahrzehnts dauern.
VDI nachrichten: Sie sagen, dass die gute Konjunktur vor allem dem Export zu verdanken ist. Müssen wir uns Sorgen machen, weil die amerikanische Wirtschaft schwächelt?
Nein, durch den Fall des Eisernen Vorhangs haben sich die Gewichte mittlerweile verschoben. Amerika ist als wichtigster Wirtschaftsfaktor in der Welt durch Asien ersetzt worden.
VDI nachrichten: Das heißt, die weltwirtschaftliche Entwicklung verstetigt sich, weil Länder mit großem Nachholbedarf, wie China und Indien, heute den Takt vorgeben?
2007 wird das weltwirtschaftliche Wachstum knapp unter 5 % liegen. Seit vier Jahren bewegen wir uns auf diesem Niveau. Das stellt sogar den Boom der 70er Jahre in den Schatten.
VDI nachrichten: Hält das kräftige Wachstum an?
Ich gehe davon aus, dass die Weltwirtschaft über längere Zeit stürmisch wachsen wird. Da die Wachstumsländer vor allem Investitionsgüter benötigen, gehört Deutschland zu den Profiteuren...
VDI nachrichten: ...auch wenn die Löhne hierzulande kräftig steigen? Immerhin fordert etwa die IG Metall 6,5 % mehr. Wie groß ist der Spielraum für Lohnerhöhungen Ihrer Meinung nach?
Es gibt das Konzept der kostenniveauneutralen oder beschäftigungsneutralen Lohnpolitik. Daran gemessen können die Löhne im Ausmaß der Produktivitätssteigerung und der Inflation zunehmen. Die Produktivitätssteigerung ist aber in 2007 etwa genau so hoch wie das, was der Staat durch die Mehrwertsteueranhebung abschöpft...
VDI nachrichten: ...danach gäbe es keinen Verteilungsspielraum?
Was der Staat durch die Mehrwertsteuererhöhung kassiert hat, kann nicht nochmals verteilt werden. Beschäftigungsneutral ist eine Lohnerhöhung von 2,5 %, also in Höhe der zu erwartenden Inflationsrate. Was darüber hinaus geht ist beschäftigungsschädlich. Was unter 2,5 % bleibt fördert die Beschäftigung. Letzteres sollte Ziel der Lohnpolitik sein, denn wir haben immer noch einen hohen Sockel an Massenarbeitslosigkeit.
VDI nachrichten: Aus Ihrer Sicht sind die Löhne in Deutschland also noch immer zu hoch?
Jedenfalls gilt das für den Bereich der einfacheren Tätigkeiten. Die Lohnspreizung ist in Deutschland nicht ausgeprägt genug. Das bemängelt auch der Internationale Währungsfonds. Die geringe Lohnspreizung erklärt in einer Studie so die hohe Arbeitslosigkeit unter den Geringqualifizierten.
VDI nachrichten: Denoch ist die Arbeitslosigkeit 2006 deutlich zurückgegangen, die Beschäftigung nimmt zu, vor allem bei Zeitarbeitsfirmen.
Das zeigt, dass die Unternehmen zögerlich sind, sich langfristig zu binden. Zeitarbeiter können die Unternehmen rasch wieder loswerden, wenn das Geschäft nicht mehr floriert. Gut ist, dass die hohe Arbeitslosigkeit langsam zurückgeht. Angesichts ihres rasanten Anstiegs in früheren Jahren gibt es aber noch nicht wirklich Anlass zum Jubel. Erst wenn die Marke von 3,9 Millionen Arbeitslosen unterschritten worden ist, die wir im letzten Boom erreichten, ist das für mich ein signifikantes Ereignis.
VDI nachrichten: Schaffen wir den Sprung unter die 4-Millionen-Marke?
Für den Niedriglohnsektor wird ein Vorschlag entwickelt. Ich hoffe, dass er radikal genug ausfällt, um etwas zu bewegen. Ich sehe in diesem Bereich den Schlüssel für eine Gesundung des Arbeitsmarktes. Es muss gelingen, die Mindestlohnschranke, die im jetzigen Lohnersatzsystem steckt, zu beseitigen. Der Staat muss zum Partner der Unternehmen werden, indem er aktivierend eingreift und Zuschüsse zu niedrigen Löhnen zahlt. Nur wenn dies gelingt, kann die gesamte Lohnskala ausreichend aufgespreizt und der Weg in die Vollbeschäftigung gefunden werden.
VDI nachrichten: Das hört sich so an, als hätten Sie doch noch Hoffnung für die deutsche Wirtschaft...
Das ist richtig.
VDI nachrichten: Können wir wieder zur Konjunkturlokomotive in Europa werden?
Die Hoffnung ist zweifellos da. Es ist Deutschland gelungen, Frankreich 2006 beim Wirtschaftswachstum abzuhängen. Dennoch ist das Wachstum der deutschen Volkswirtschaft innerhalb der EU immer noch unterdurchschnittlich. Wir brauchen Reformen. Ohne sie werden wir unsere Ziele nicht erreichen.
VDI nachrichten: Bitte konkreter: Welche Punkte enthält Ihre Reform-Agenda? Was sind wichtige Stichworte?
l. Die Reform des Sozialstaates, der ja auf den Arbeitsmarkt wirkt - Stichwort Lohnersatz in Richtung negative Einkommensteuer. 2. Öfmungsklauseln in Tarifverträgen. 3. Auflockerung des Kündigungsschutzes. 4. Mehr Möglichkeiten für die Wiedereingliederung älterer Arbeitnehmer in den Arbeitsprozess. Und 5. Einführung von Investivlöhnen.
Das Interview führte Dieter Heumann