Die Wirtschaft brummt wie lange nicht mehr. Und auch der erste große Lohnabschluss ist in der Chemieindustrie mit 4,3 Prozent (3,6 Prozent mehr Lohn + 0,7 Prozent Einmahlzahlung) perfekt. Nach Jahren der Lohnrückzahlung wollen die Arbeitnehmer angemessen am Erfolg beteiligt werden. Dies sieht auch die Arbeitgeberseite so, warnt aber gleichzeitig vor zu hohen Erwartungen. Und da liegt der Hase im Pfeffer, denn über das, was angemessen ist, gehen die Meinungen weit auseinander. PAZ-Redakteur Jan Tiemann befragt den Präsidenten des Ifo Instituts für Wirtschaftsforschung. Hans-Werner Sinn zur Tarifsituation.
Verdi (Druckbranche) und IG Metall fordern 6,5 Prozent mehr Lohn, IG BAU 5,5 Prozent und die IG BCE als 4,3 Prozent. Sind diese Forderungen auch vor dem Hintergrund positiver Konjunkturnachrichten realistisch? 3 Prozent oder mehr könnten realistisch sein in dem Sinne, dass sie zum Schluss herauskommen. Aber ist das, was realistisch ist, auch sinnvoll? Die Forderungen der IG Metall halte ich angesichts der Massenentlassungen im verarbeitenden Gewerbe, die trotz des Booms fortgesetzt werden, für mehr als problematisch. Auf diese Weise wird der Standort Deutschland weiter gefährdet. Deutschland hat die höchsten Stundenlohnkosten der Industriearbeiter unter allen großen Industrieländern. Vor allem sind diese Lohnkosten im Verhältnis zur gesamtwirtschaftlichen Produktivität die höchsten unter allen entwickelten Ländern. Wir sollten daher eher vorsichtig bei den Zuwächsen sein und eher auf die Beendung des Jobsterbens als auf Einkommenszuwächse bei jenen setzen, die persönlich durch den staatlichen Kündigungsschutz vor Entlassungen geschützt sind.
Die Unternehmen machen so gute Gewinne wie seit Jahren nicht mehr und die Arbeitnehmer wollen ihr verdientes Stück vom Kuchen haben. Sehen Sie hier eine Diskrepanz? Ich habe Verständnis für die Wünsche der Arbeitnehmer. Indes sind die Gewinne so groß, weil die deutschen Arbeitnehmer unter einer internationalen Niedriglohnkonkurrenz der exkommunistischen Länder leiden, durch welche die Lohnanstiege begrenzt werden. Will man diese Konkurrenz ignorieren und eine Lohnpolitik machen, die vom Prinzip der Gerechtigkeit getrieben ist, verschärft man unweigerlich die Massenarbeitslosigkeit in Deutschland. Die Niedriglohnkonkurrenz, die die Unternehmen reich macht, kann man durch hohe Lohnsteigerungen nicht beseitigen, sondern nur verschlimmern. Beim nächsten Konjunkturabschwung, der dann um so schneller kommt, wird sich diese Politik rächen. Den Zielkonflikt zwischen einer gerechten Verteilung und dem Erhalt der Arbeitsplätze kann man nicht über die Lohnpolitik entschärfen, sondern nur über Investivlohnmodelle und über staatliche Lohnzuschüsse bei Geringverdienern.
Einige Wirtschaftswissenschaftler plädieren sogar für höhere Löhne (3 bis 3,5 Prozent), da die Abschlüsse der vergangenen Jahre moderat waren. Die Einigen möchte ich gerne einmal sehen. Außer ein paar verbohrten Alt-Keyenesianern fällt mir dazu keiner ein. Hunderte von Professoren der Volkswirtschaftslehre haben vor einiger Zeit auf das Problem der überhöhten deutschen Lohnkosten hingewiesen und Lohnmäßigung gefordert.
Welche Gefahren sehen Sie in zu hohen Abschlüssen? Wie gesagt: die Arbeitslosigkeit würde sich wieder vergrößern.
Inwieweit sollten Inflation und Produktivität in die Abschlüsse einfließen? Sie sind beide die Richtschnur für eine sogenannte beschäftigungsneutrale Lohnpolitik. Aber wollen wir eine solche Politik? Ich denke, Deutschland braucht mehr Beschäftigung, und nicht etwa Beschäftigungsneutralität.
Wo sehen Sie die Schmerzgrenze erreicht? Sie ist mit den heutigen Löhnen bereits weit überschritten. Das heißt nicht, dass ich für Lohnsenkungen votiere. Man kann die Geschichte nicht mehr rückgängig machen. Die verheerenden Wirkungen der Gewerkschaftspolitik der siebziger und achtziger Jahre, die wir bis zum heutigen Tage spüren, mahnen aber zur Mäßigung bei den Steigerungen. Ich würde für einige Jahre nur die Inflationsrate als Barlohnsteigerung gewähren und statt dessen den Produktivitätszuwachs als Investivlohn gewähren. Im laufenden Jahr ist die Schwierigkeit freilich, dass der Produktivitätszuwachs bereits von Herrn Steinbrück in Form der Mehrwertsteuererhöhung kassiert wurde. Insofern ist ein über die Inflation hinausgehender Verteilungsspielraum ohnehin nicht vorhanden.
Zur Person: Hans-Werner Sinn
Hans-Werner Sinn (geb. 7. März 1948 in Brake, Westfalen) Nach dem Studium der Volkswirtschaftslehre an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster von 1967 bis 1972 und Promotion an der Universität Mannheim 1978 über „Ökonomische Entscheidungen bei Ungewissheit“ wurde Sinn 1983 ebenfalls von der Universität Mannheim habilitiert.Seit 1984 ist Sinn Ordinarius an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, die meiste Zeit auf dem Lehrstuhl für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft. Er ist seit dem 1. Februar 1999 Präsident des ifo Instituts für Wirtschaftsforschung, eines der bekanntesten deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute in Deutschland. Von 1997 bis 2000 war Sinn Vorsitzender des Vereins für Socialpolitik, des Fachverbandes deutscher Ökonomen. Er gilt als einer der einflussreichsten und international anerkanntesten Wirtschaftswissenschaftler Deutschlands und ist Autor des Buches Ist Deutschland noch zu retten?, mit dem er einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde und den Begriff der Basarökonomie prägte. Um auf Kritik seitens der Medien auf dieses Buch zu reagieren, schrieb er 2005 außerdem das Buch Die Basarökonomie. Kritiker nennen ihn neo-liberal. In Wahrheit setzt sich Sinn für einen starken Staat ein, der einen Teil der Einkommen der Reichen zu den Armen umverteilt. Nur will er an die Stelle eines lähmenden Sozialstaates einen aktivierenden Sozialstaat setzen. Sinn wurde Ende August 2006 zum neuen Präsident des Weltverbandes der Finanzwissenschaftler gewählt.