Deutschlands populärster Ökonom über „Wirtschaftspolitik auf Sparflamme“, die neue Unterschicht und drohende Krawalle auf den Straßen
DIE WELT: Professor Sinn, ist der robuste Wirtschaftsaufschwung, der unerwartet über die Deutschen kam, womöglich ein Unglück?
Hans-Werner Sinn: Warum denn das? Wir haben eine schöne Konjunktur. Im nächsten Jahr könnte die Zahl der Arbeitslosen auf 3,5 Millionen Menschen sinken. Das wären 400.000 Arbeitslose weniger als im Jahr 2001, dem Höhepunkt des letzten Booms. Das sind doch gute Nachrichten!
WELT: Plötzlich will niemand mehr etwas von schmerzhaften Veränderungen wissen. Der Reformeifer scheint erlahmt. Alle denken, es geht nur noch aufwärts.
Sinn: Die öffentliche Diskussion folgt einer merkwürdigen Logik. Springt die Konjunktur erst einmal an, glauben alle an den ewigen Aufschwung. Das war 2000 auch schon so. Drei Jahre später kam die Flaute, und bei den Deutschen machte sich Weltuntergangsstimmung breit. Solche Übertreibungen in beide Richtungen sind Unsinn. Die Wirtschaft entwickelt sich nun einmal in Zyklen. Fünf Jahre geht es rauf, fünf Jahre runter.
WELT: Versäumen wir gerade, in guten Zeit unsere Hausaufgaben zu machen?
Sinn: Das ist zu befürchten. Derzeit befinden wir uns in einer Ausnahmesituation. Die Weltkonjunktur boomt unglaublich. Wir haben seit vier Jahren eine Wachstumsrate von etwa fünf Prozent. Das gab es nach dem Krieg noch nie. Um die Produktionskapazitäten ausweiten zu können, kauft jetzt die ganze Welt deutsche Maschinen und Ausrüstungen. Deutschland hat sich, anders als zum Beispiel Frankreich, auf die Produktion von Investitionsgütern spezialisiert und wird deshalb vom Auf und Ab der internationalen Investitionsgüternachfrage besonderes stark durchgeschüttelt. Um das Land für das nächste Jahrzehnt richtig aufzustellen, müssten wir endlich die Reformen anpacken, über die schon in der Schröder-Zeit gesprochen wurde und mit denen Frau Merkel in den Wahlkampf gezogen ist. Ihr Programm war fantastisch. Aber was ist daraus geworden!
WELT: Sie haben der Kanzlerin zu Beginn ihrer Amtszeit zu einem Kraftakt geraten. Wie enttäuscht sind Sie von Angela Merkel?
Sinn: Vielleicht verhält sie sich ganz klug. Sie hat die Wirtschaftspolitik auf Sparflamme gestellt, weil sie damit bei der derzeitigen politischen Konstellation ohnehin nicht weiter kommt. Bei außenpolitischen Themen kann sie leichter punkten. Dass die Regierung zu wenig tut, liegt vor allem an der SPD, die den Schröderschen Kurs beerdigt hat. Diese Partei zeigt heute keine Bereitschaft mehr, nochmals solch eine Politik zu wagen, weil sie befürchtet, dann zerrissen zu werden.
WELT: Sie trauern dem Elan von Gerhard Schröder nach?
Sinn: Das wäre zu viel gesagt. Aber objektiv muss man feststellen, dass er mit der Ankündigung der Agenda 2010 im März 2003 ein unpopuläres Wagnis eingegangen ist. Das verdient Anerkennung.
WELT: Ein enger Schröder-Mitstreiter war der heutige Arbeitsminister Franz Müntefering. Wie beurteilen sie seine Arbeit?
Sinn: Was ich aus dem Arbeitsministerium höre, überzeugt mich nicht. Die Globalisierung hat Gewinner und Verlierer. Die Verlierer sind die Klientel der SPD. Sie glaubt, einfache Arbeiter durch Mindestlöhne vor steigendem Lohndruck schützen zu können. So werden viele Menschen dauerhaft aus dem Arbeitsmarkt gedrängt. Das ist der Weg, den die SPD unter Herrn Müntefering einschlägt.
WELT: Wie würden Sie den deutschen Aufschwung charakterisieren? Handelt es sich um einen ganz normalen Konjunkturzyklus? Oder erleben wir ein kleines Wirtschaftswunder?
Sinn: Von einem Wirtschaftswunder sind wir meilenweit entfernt. Das hatten wir in den Fünfzigerjahren mit einem Wachstum über zehn Jahre von 110 Prozent. Von 1995 bis 2005 hatten wir gerade mal eines von 14%. Und mit den 2,7 Prozent Wachstum des vergangen Jahres haben wir gerade den Durchschnitt der alten EU-Länder erreicht. 2007 werden wir vermutlich sogar etwas darunter bleiben.
WELT: Die Effekte des Aufschwungs jedoch sind außerordentlich positiv. Sogar besser als von Ihrem Institut vorhergesagt.
Sinn: Wir standen zwar immer auf der Seite der Optimisten und haben den Aufschwung bereits im Dezember 2005 vorhergesagt. Seine Stärke hat aber auch uns überrascht. Es ist diese ungewöhnliche Konstellation der Weltkonjunktur, die alles treibt. Hinzu kommen gewisse Effekte durch die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe. Einst gut gestellte Arbeitslose sind plötzlich bereit, zu niedrigeren Löhnen zu arbeiten. Dadurch kommt einiges in Bewegung.
WELT: Können Sie mit dem Begriff vom "abgehängten Prekariat" etwas anfangen?
Sinn: Wahr ist: In Deutschland gibt es eine Unterschicht. Die aber hat der Sozialstaat hervorgebracht.
WELT: Wie bitte?
Sinn: Fast ein Drittel unseres Sozialprodukts verwenden wir für soziale Leistungen. Um in ihren Genuss zu kommen, ist es meist erforderlich, den Arbeitsmarkt zu verlassen. Anders ausgedrückt: Die Menschen erhalten eine Prämie, wenn sie sich aus der Arbeitsgesellschaft ausgliedern. Erst dadurch hat sich die Unterschicht im heutigen Umfang gebildet und verfestigt. Ein falsch konstruierter Sozialstaat, der das Wegbleiben, statt das Mitmachen belohnt, hat die Kinder dieser Menschen auf dem Gewissen.
WELT: Einige SPD-Politiker fordern daher den „vorsorgenden Sozialstaat", der stärker in die Familie eingreift. Wie gefällt Ihnen das?
Sinn: Wenn der Staat durch Bildung vorsorgt, ist das völlig richtig. Bildung ist die beste Medizin gegen soziale Spannungen. Sie sorgt für gleiche Startchancen. Das ist allemal besser, als nachträglich in die Einkommensverteilung einzugreifen.
WELT: Wie steht Deutschland bei der Bildung im internationalen Vergleich dar?
Sinn: Schlecht. Es gibt kein anders Land, in dem die Spannweite zwischen den Leistungen der besten und der schlechtesten Schüler so groß ist wie bei uns. Das liegt vor allem daran, dass wir es nicht geschafft haben, die türkischen Kinder zu integrieren.
WELT: Offenbar ist die Wohlstandsgesellschaft rissig. Ab wann bedroht das den sozialen Frieden?
Sinn: Der soziale Frieden ist schon heute in Gefahr. Frankreich, das auf dem Entwicklungspfad Richtung Sozialstaat weiter ist als wir, zeigt, was uns blühen könnte: Dort haben wir zwei Jahre hintereinander Herbstkrawalle von arbeitslosen Jugendlichen gesehen. Sie schauen hoffnungslos in die Zukunft und entladen ihren Frust, indem sie Autos anzünden.
WELT: Kriminelle Machenschaften gibt es auch anderswo. In dem Vorzeigekonzernen Siemens und Volkswagen kam es zu schweren Korruptionsfällen. Bleibt in unserer Turbo-Marktwirtschaft die Moral auf der Strecke?
Sinn: Beide Fälle haben auch mit der deutschen Mitbestimmung und der starken Stellung der Arbeitnehmer-Vertreter zu tun. Die Unternehmensleitung hat versucht, sich deren Zustimmung zu erkaufen. Das ist nicht unbedingt das Ergebnis des Kapitalismus, sondern das Ergebnis des Versuchs, seine Spielregeln auf deutsche Art zu verändern.
WELT: Bei Siemens wurde offenbar auch geschmiert, um Aufträge zu erhalten. Gehen da Werte verloren?
Sinn: Das ist nicht in Ordnung. Man muss aber bedenken, dass im internationalen Geschäft mit harten Bandagen gekämpft wird. Wer bei Großprojekten kein Geld für lokale Politiker springen lässt, kommt eben nicht zum Zuge. Aber klar: Da das deutsche Recht die Zahlungen seit 1999 verbietet, muss der Staat nun durchgreifen.
WELT: Im Vergleich zu manchen Börsenkonzernen scheinen viele Familienbetriebe ein Hort von Redlichkeit zu sein. Könnten sie wieder zum Vorbild werden?
Sinn: Der pure Wettlauf um Größe ist sicherlich nicht der Königsweg. Deutschlands Stärke liegt ja gerade in einem starken Mittelstand. Wenn ein Unternehmen so groß ist, dass es an der Börse gehandelt wird, ist die beste Zeit oft vorbei. Ein Unternehmer, der als Eigentümer und Manager tätig ist, wird sich mit seiner ganzen Kraft darum kümmern, dass seine Firma floriert.
WELT: Ist das patriarchalische Unternehmertum mit seiner langfristigen Orientierung dem kurzfristigen Gewinnstreben überlegen?
Sinn: Das Modell des patriarchalischen Unternehmers ist das deutsche Erfolgsmodell. Darauf gründet unser Wohlstand. Allerdings hat der klassische Mittelstand auch eine Schwäche: Er bekommt nicht genug Eigenkapital. Wenn ein Unternehmen größer wird, kann der Eigentümer-Unternehmer nicht weiter allein agieren.
WELT: Dann treten angestellte Manager an seine Stelle. Leidet darunter die Firmenkultur?
Sinn: Vielleicht ein bisschen. Aber auch ein guter Manager kümmert sich um seine Belegschaft, weil er weiß, dass er sie braucht.
WELT: Ökonomen sind notorische Optimisten. Trotz Konjunkturschwankungen unterstellen sie auf lange Sicht immer einen Wachstumstrend. Ist solche Fortschrittgläubigkeit in unserer Zeit noch angemessen?
Sinn: Die Welt wächst weiter: Da gibt es keinen Grund, pessimistisch zu sein.
WELT: Müssen wir uns angesichts des Klimawandels und knapper werdender Rohstoffe nicht auf Verzicht einstellen?
Sinn: Schon, aber das muss keinen Wohlstandsverzicht bedeuteten. Natürliche Ressourcen sind nur ein Produktionsfaktor von mehreren. Wenn ich zum Beispiel bessere Software produziere, steigt das Sozialprodukt. Dafür brauche ich kein Öl.
WELT: Knapper werden aber auch die Menschen, die arbeiten. Wann entwickelt sich der Bevölkerungswandel zur Wachstumsbremse?
Sinn: Noch stehen die Deutschen in Saft und Kraft. Ab etwa 2020 aber wird die Demografie zur starken Bürde für das Wachstum. Die Arbeitsbevölkerung geht danach sehr rasch zurück, weil die Babyboomer, die jetzt 43 Jahre alt sind, sukzessive in die Rente gehen. Leider fehlt der Nachwuchs.
WELT: Der Soziologe Ulrich Beck spricht von einer "Gesellschaft des Weniger". Wann schreiben Sie ein Buch über die "Ökonomie der Bescheidenheit"?
Sinn: Das habe ich nicht vor. Bescheidenheit im Ökonomischen ist kein gutes Ziel. Der Wunsch, Vermögen zu akkumulieren, reicher zu werden, voran zu kommen ist die Triebkraft des Ganzen. Wenn wir uns zum Schluss bescheiden müssen, na gut.