Die Ökonomen Hans-Werner Sinn und Martin Hüfner streiten sich über Deutschlands Erfolg
Die weltweiten Konjunkturaussichten verdüstern sich, der Euro ist so stark wie nie, und der Ölpreis klettert rasant. Dennoch rechnet der Wirtschaftsberater und frühere Chefökonom der HypoVereinsbank, Martin Hüfner, fest damit, dass der Aufschwung in Deutschland weitergeht. Der Präsident des Münchner Ifo-Instituts, Hans-Werner Sinn, bewertet die Lage deutlich skeptischer. Für ihn wird 2009 kritisch - ausgerechnet das Jahr der nächsten Bundestagswahl.
Die Welt: Das Wachstum in Amerika schwächt sich ab, der Dollar fällt. Wie lange geht das für die Exportnation Deutschland noch gut?
Hüfner: Noch eine ganze Weile. Deutschland ist in einer viel besseren Situation als etwa vor ein paar Jahren. Deshalb halten wir sogar die Dreifachbelastung aus schwächerer US-Konjunktur, höherem Ölpreis und stärkerem Euro aus. Das Wachstum wird etwas langsamer, die Konjunktur geht aber nicht kaputt.
Sinn: Da bin ich etwas skeptischer. Noch ist der Aufschwung nicht kaputt. Aber die Immobilienkrise in Amerika ist voll im Gange. Sie schwächt den Konsum und die Konjunktur. Davon werden auch wir mit einer Verzögerung von ein bis zwei Jahren betroffen sein. Ein leidlich gutes Jahr haben wir noch. Aber für 2009, also das Jahr der Bundestagswahl, bin ich schon nicht mehr so optimistisch. Das wird ein kritisches Jahr.
Die Welt: Also ist der Aufschwung schon bald wieder vorbei?
Hüfner: Nein. Früher hat man gesagt, wenn Amerika einen Schnupfen hat, bekommen wir eine Lungenentzündung. Heute kriegen wir allenfalls eine leichte Grippe. Dank des Aufstiegs großer Schwellenländer sind wir weniger abhängig von Amerika. Gleichzeitig ist Deutschland wettbewerbsfähiger geworden. Die Beschäftigten haben verstanden, dass sich Flexibilität lohnt. Wenn die Unternehmen jetzt noch stärker investieren, erhöht sich auch unser Wachstumspotenzial, das mit 1,5 bis zwei Prozent immer noch sehr niedrig ist.
Sinn: Wenn, ja wenn. Fakt ist, dass die deutsche Nettoinvestitionsquote an vorletzter Stelle der OECD-Länder steht. Wer keine Nettoinvestitionen hat, kann langfristig auch nicht wachsen. Die Potenzialwachstumsrate liegt bei nicht mehr als 1,5 Prozent, eher niedriger.
Die Welt: Dann erleben wir jetzt gar kein zweites Wirtschaftswunder?
Sinn: Ach was. Wie können wir ein Wirtschaftswunder haben, wenn wir nach der Prognose der Institute in diesem Jahr mit 2,6 Prozent Wachstum uns nicht einmal vom Durchschnitt der alten EU-Länder abheben, der bei 2,7 Prozent liegt. Deutschland schwimmt als Korken auf den Wogen der Weltwirtschaft, die boomte in letzter Zeit wie noch nie seit 1950. Die Weltkonjunktur ist die Hauptsache. Hinzu kommt eine reale Abwertung im Euroraum von elf Prozent seit 1999, die zustande kam, weil unsere Preise weniger als die der anderen Länder stiegen.
Die Welt: Haben wir also nur Glück gehabt?
Sinn: Auch Schröders Agenda 2010 hat ein bisschen geholfen. Die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe und die Verkürzung der Bezugsdauer beim Arbeitslosengeld I hat die Lohnansprüche vieler Arbeitsuchender gesenkt. Dadurch entstanden gering bezahlte Jobs unter anderem bei den Zeitarbeitsfirmen, die es sonst nicht gegeben hätte.
Hüfner: Die Schröder-Reformen sind nur die Hälfte der Wahrheit. In diesem Land hat es in den vergangenen Jahren in den Unternehmen und bei den Beschäftigten mehr Reformen gegeben als je zuvor und mehr als in jedem anderen Land. Das kann man doch nicht einfach wegdiskutieren. Es ist wirklich enorm, mit welcher Konsequenz die Unternehmen und ihre Beschäftigten sich und damit das Land modernisiert haben. Deutschland ist durch die Privatwirtschaft gerettet worden. Jetzt ist der Staat gefordert, weiter zu reformieren.
Die Welt: Stattdessen erntet Bundeskanzlerin Angela Merkel Schelte für ihren zögerlichen Kurs. Hat die große Koalition dem Land eher geschadet als genutzt?
Hüfner: Ich bin enttäuscht. Statt das Land voranzubringen, haben sich die beiden großen Parteien auf den kleinsten gemeinsamen Nenner geeinigt. Nur die Rente mit 67 war klug, und selbst die wird man vielleicht am Ende noch aufweichen. Die große Koalition hat ihre Chance verpasst.
Sinn: Dass sich nicht viel tun würde, war zu erwarten. Ich bin sogar angenehm überrascht, dass es der Regierung immerhin gelungen ist, den Haushalt zu konsolidieren. Mehr ist nicht drin. Die SPD kann sich momentan nicht bewegen, weil sie dann sofort am linken Rand Wähler verlöre. Würde die Partei den Schröder-Kurs fortsetzen, zerbräche sie. Die CDU geht hingegen rational vor, weil sie auf der linken Seite mehr Wähler dazu gewinnt als sie auf der rechten verliert. Und diejenigen, die abwandern, landen bei der FDP - und damit beim künftigen Koalitionspartner.
Die Welt: Also machen beide Parteien eine recht kluge Politik?
Sinn: Politökonomisch schon, ökonomisch nicht. Die langfristige Gesundung des Landes gerät beim Schielen nach Wählerstimmen aus dem Blick.
Die Welt: Wie sähe denn der wichtigste Punkt Ihrer Agenda 2015 aus?
Sinn: Wir müssen aufhören, Menschen dafür zu bezahlen, dass sie nicht arbeiten. Deutschland gibt zu viel Geld fürs Wegbleiben und zu wenig fürs Mitmachen aus. Der Staat sollte bei gering qualifizierten Arbeitnehmern, bei denen das Einkommen tatsächlich nicht für ein menschenwürdiges Leben ausreicht, den Lohn in Form einer aktivierenden Sozialhilfe aufbessern.
Hüfner: Alle reden im Moment nur darüber, wie wir die Folgen des Aufschwungs verteilen können. Das ist falsch. Wir müssen uns fragen, wie wir das Wachstum sichern können. Dann kommen die zusätzlichen Arbeitsplätze auch für die Geringverdiener von allein.
Die Welt: Was ist dafür nötig?
Hüfner: Grundsätzlich sollte sich der Staat aus der Wirtschaft heraushalten. Wir haben eine Marktwirtschaft, in der Wachstum und Beschäftigung von den Betrieben und den Beschäftigten gemacht werden, nicht vom Staat. Dafür brauchen sie aber Raum zum Atmen. Deshalb müssen Steuern und Abgaben runter, denn diese Belastung ist immer noch viel zu hoch. Und die Löhne müssen vernünftig steigen. Wir brauchen mehr Konsum, um den Aufschwung zu sichern.
Sinn: Einspruch. Die Steuern und Abgaben sind nicht mehr das Hauptproblem, die Staatsquote ist niedriger als seit langem. Wir haben fast britische Verhältnisse. Wir geben das Geld nur falsch aus. Mehr Konsum schaffen Sie im Übrigen nicht durch Lohnerhöhungen, sondern durch mehr Beschäftigung. Und das geht nur, wenn der Arbeitsmarkt flexibler und damit auch wettbewerbsfähiger wird. Wenn der Bauer eine größere Ernte haben will, muss er mehr arbeiten.
Hüfner: Aber wenn Sie den Gürtel immer nur enger schnallen, müssen Sie sich nicht wundern, wenn niemand mehr Appetit hat und der Konsum nicht anspringt. Bei einem realen Wachstum von 2,5 Prozent und zwei Prozent Inflation haben wir einen Verteilungsspielraum von rechnerisch 4,5 Prozent. Bisher sind die Löhne aber nur um zwei bis drei Prozent gestiegen. Da ist noch deutlich Luft nach oben. Wenn ich mehr Wachstum will, muss ich den Beschäftigten auch mehr Geld in die Hand geben.
Sinn: Das Gegenteil ist richtig. Niedrige Löhne locken Investitionen an, und nur daraus entsteht Wachstum. Investitionen sind genauso Nachfrage wie Konsum, aber sie erhöhen zusätzlich die Produktionskapazität. Deutsche investieren derzeit netto um die Hälfte mehr im Ausland als im Inland. Ich vermute, sie tun dies, weil Deutschland noch immer zu den weltweiten Lohnführern gehört. Nur in Dänemark und Norwegen sind die Stundenlöhne der Industriearbeiter höher als bei uns. Das Land leidet nach wie vor unter der Massenarbeitslosigkeit der Geringqualifizierten. Wir sind hier an der Spitze der ganzen OECD. Selbst im Aufschwung werden wir nächstes Jahr 3,5 Millionen Arbeitslose behalten. Das abzubauen funktioniert nur über eine stärkere Lohnspreizung nach unten und ergänzende Lohnzuschüsse zur Sicherung von Mindesteinkommen.
Die Welt: Gleichzeitig haben die Bürger aber gefühlt immer weniger in den Taschen, weil beispielsweise die Preise für Öl und Lebensmittel rasant steigen. Wie sollte die Politik darauf reagieren?
Sinn: Gar nicht. Dass die Inflation in diesem Jahr hoch ist, liegt an der Mehrwertsteuererhöhung, aber das ist ein Einmaleffekt. Das kommt nächstes Jahr nicht noch einmal.
Hüfner: Da muss ich Ihnen noch einmal widersprechen. Die Inflation wird uns noch einigen Ärger machen. Wenn die Preise für Öl und Lebensmittel weiterhin so rasant steigen und die Importe aus China und anderen Schwellenländern nicht mehr billiger werden, so wird sich das bald sehr deutlich auf die Wirtschaft auswirken. Die Zentralbank wird dann vor dem Problem stehen, dass sie trotz der Finanzkrise und möglicher Abschwächung der Konjunktur die Leitzinsen erhöhen muss. An den Finanzmärkten ist das noch gar nicht realisiert worden. Es droht dort das nächste böse Erwachen.
Das Gespräch führten Jan Dams und Anja Struve