Im Gespräch mit Prof. Dr. Hans-Werner Sinn, Präsident des ifo Instituts für Wirtschaftsforschung
Deutschland ist Exportweltmeister. Die Prognosen für das Wirtschaftswachstum werden permanent nach oben korrigiert, die Arbeitslosigkeit sinkt. Haben Politik, Gewerkschaften und Industrie also alles richtig gemacht? Oder haben wir es nur mit einem Strohfeuer zu tun?
Also erst einmal zum Sachverhalt: Deutschland ist Exportvizeweltmeister und war das auch die ganzen letzten Jahre, Weltmeister sind wir nur, wenn wir die Dienstleistungen abziehen. Wir haben weltweit einen Wirtschaftsboom mit 5 Prozent Wachstum, und die Investitionsgüternachfrage, die diesen Boom treibt, richtet sich speziell auf deutsche Produkte, weil wir eben die Nr. 1 bei der Herstellung von Investitionsgütern auf der Welt sind.
In Ihren Büchern „Ist Deutschland noch zu retten?“ und „Die Basar-Ökonomie“ zeichnen Sie ein eher düsteres Bild des Wirtschaftsstandortes Deutschland und fordern weitere Reformen. Wie korrespondiert dies mit der scheinbar positiven wirtschaftlichen Entwicklung?
Die Kehrseite des Exportbooms war in den letzten Jahren eine übermäßig rasche Vernichtung der Binnensektoren, die als arbeitsintensive Sektoren dem internationalen Lohndruck nicht standhalten konnten. Aufgrund der extrem hohen Löhne in Deutschland sind diese Binnensektoren geschrumpft. Wir haben eine Wanderung von den arbeitsintensiven hin zu den kapitalintensiven Sektoren. Ich glaube, dass die Entwicklung weg vom verarbeitenden Gewerbe, wo immer mehr Arbeitsplätze verloren gehen, hin zu sehr kapital- und wissensintensiven Tätigkeiten auf den Endstufen der Produktion zur Basar-Ökonomie führt. Die Basar-Ökonomie basiert nicht auf einer Schwäche im Export. Sie ist vielmehr durch eine Schwäche am Arbeitsmarkt gekennzeichnet. Die momentan verbesserten Arbeitslosenzahlen sind meiner Meinung nach dem Weltwirtschaftsboom zu verdanken. An eine Trendwende glaube ich eher nicht. Erst wenn sich die Weltwirtschaft wieder auf normale Wachstumsfahrt begibt, wird sich zeigen, was wirklich substanziell an Trendwende in Deutschland passiert ist. Die Schröder’schen Reformen haben auf dem Arbeitsmarkt sicher einiges bewegt. Aber wie groß dieser Effekt relativ zum Superboom der Weltwirtschaft ist, können wir ökonometrisch noch nicht feststellen.
Warum müssen Unternehmen, wenn sie wettbewerbsfähig bleiben wollen, immer mehr Produktionsstufen ins Ausland verlagern?
Weil andere das auch machen. Zum Beispiel verlagert Toyota die Vorstufen der Produktion in die asiatischen Niedriglohnländer.
Beispiel Auto, Beispiel Porsche. Sie beschreiben in Ihrem Buch, dass beim Porsche Cayenne die eigentlich lohnintensive Arbeit gar nicht in Deutschland stattfindet.
Ja, so ist das. Nach einer Schätzung von Ferdinand Dudenhöffer vom Center of Automotive Research (CAR) liegt ein Drittel der Fertigungskosten dieses Autos in Deutschland und zwei Drittel im Ausland. Ich nehme an, dass dies bei anderen Autos auch nicht viel anders ist. Das ist die Erfolgsstrategie für die deutsche Automobilindustrie. Würde sie das nicht machen, wäre sie vermutlich nicht mehr wettbewerbsfähig. Es werden ordentlich Gewinne gemacht und dadurch auch Jobs im Inland gerettet. Dank der Outsourcing-Strategie konnte Deutschlands verarbeitendes Gewerbe seinen Anteil am Sozialprodukt verteidigen. Die Strategie der Automobilindustrie hat den Charakter einer Second-Best-Lösung. Sie vermindert den Schaden in Form von Vernichtung von Arbeitsplätzen, indem sie Arbeitsplätze verlagert. Würde sie das nicht tun, müsste sie vielleicht alles aufgeben.
Gibt es auch eine Insourcing-Strategie? Können wir auch Arbeiten nach Deutschland holen?
Theoretisch schon. Wir könnten natürlich das Design und die Ingenieurleistungen verstärkt nach Deutschland holen. Wenn Sie so wollen, hat DaimlerChrysler das probiert, indem Chrysler übernommen wurde, um Chrysler-Autos dann von Mercedes-Ingenieuren entwickeln zu lassen. Das war sehr theoretisch, praktisch hat es eben doch nicht funktioniert.
In Ihrer Analyse des Wirtschaftsstandortes Deutschland schneidet die Automobilindustrie relativ gut ab. Worauf führen Sie dies zurück?
Diese Unternehmen haben sich nach wie vor prächtig gehalten im Wettbewerb trotz gewisser Schwierigkeiten. Porsche geht von einem Rekord zum anderen, Audi ist eine reine Erfolgsstory … Aber diese Erfolge basieren eben auch darauf, dass schon jahrelang wichtige Teile in Osteuropa vorproduziert werden, bis zu Extremfällen wie beim Cayenne, wo praktisch das ganze Auto, abgesehen vom Motor, aus Bratislava kommt. Das sind betriebswirtschaftliche Erfolgsstrategien, ohne Frage. Die volkswirtschaftlichen Fragezeichen deuten nicht auf eine Kritik gegenüber diesen Unternehmen, sondern verweisen vielmehr auf eine Rigidität des deutschen Arbeitsmarktes.
Die Automobilindustrie und die damit verbundene Zulieferindustrie sind als Arbeitgeber wie als Wirtschaftsfaktor nach wie vor Spitze. Wie lässt sich die Spitzenposition Ihrer Meinung nach stabilisieren und ausbauen?
Diese Outsourcing-Strategie muss man perfektionieren. Man muss sein Geld immer mehr mit Ingenieurdienstleistungen, Design, Marketing und der Erschließung der Märkte sowie der Verlagerung der Fertigung ins Ausland oder zu Robotern verdienen.
Einerseits hat Deutschland über drei Millionen Arbeitslose, andererseits können entscheidende Industriebranchen wie die Automotive Industrie ungefähr 20 Prozent ihrer offenen Stellen nicht besetzen, weil es an qualifiziertem Personal fehlt. Wie lässt sich diese Diskrepanz erklären bzw. auflösen?
Am Arbeitsmarkt gibt es immer das Problem, dass die Arbeitsnachfrage durch die Unternehmen nicht das passende Angebot durch die Arbeitsuchenden findet, zum Beispiel weil Leute anders ausgebildet sind, als die Nachfrage der Unternehmen es gerade verlangt. Dieses Phänomen tritt natürlich besonders stark auf, wenn es einen konjunkturellen Aufschwung gibt. Davon zu reden, dass Deutschlands Automobilindustrie nicht expandieren könnte, weil es hier an Menschen fehlte, ist natürlich Unsinn, weil die Automobilindustrie ja viele Menschen entlassen hat, die früher bei ihr beschäftigt waren.
Vielen Dank für das Gespräch.