Professor Hans-Werner Sinn, Leiter des Münchner Ifo-lnstituts für Wirtschaftsforschung, gilt als einer der einflussreichsten und international anerkanntesten Wirtschaftswissenschaftler Deutschlands. Wie schätzt er die Stärken der BRIC-Staaten ein? Das IHK-Magazin sprach mit Sinn über die Chancen der Schwellenländer, heimliche Gewinner und die Folgen der Globalisierung für die deutsche Industrie.
Herr Professor Sinn. Goldman Sachs-Chefvolkswirt Jim O'Neill hat den Begriff „BRIC" - Brasilien, Russland, Indien und China - geprägt. Die BRIC-Staaten gelten seitdem als die Schwellenländer mit den größten Chancen, die Industrie- und Dienstleistungsnationen zu überflügeln. Gibt es andere Staaten, die ein ähnliches Potenzial haben?
Die Entwicklung der vier BRIC-Staaten war in den letzten Jahren in der Tat sehr beeindruckend und hat auch die ursprünglichen Erwartungen von Goldman Sachs weit übertroffen. Die BRIC-Staaten sind kein homogener Block. So haben Brasilien und Russland auf der einen Seite enorm von der gestiegen Nachfrage nach Rohstoffen profitiert. Auf der andern Seite stehen China und Indien, die über ihre niedrigen Arbeitskosten Anteile an den Weltmärkten erobert haben. Aber auch andere rohstoffreiche Länder wie Australien haben von dieser Entwicklung profitiert. Die Nachfrage nach Rohstoffen wird auch in Zukunft hoch sein. Das große Reservoir an Arbeitskräften und die noch möglichen Produktivitätsfortschritte bergen in China und Indien noch erhebliche Möglichkeiten. Die BRIC-Staaten haben daher das Potenzial, auch weiterhin ihre Rolle auszudehnen.
Welche Risiken sehen Sie in den BRIC-Staaten?
Es gibt beachtliche Risiken, wie politische Instabilitäten und ein Inflationsdruck. Die Frage ist auch, ob es den BRIC-Ländern gelingt, die bei schnellem Wachstum entstehenden Strukturungleichgewichte rechtzeitig zu überwinden. Diese könnten sich ansonsten in politische und soziale Konflikten niederschlagen. Der langfristige Entwicklungsverlauf ist abhängig von der Qualität der Institutionen in allen entwicklungsrelevanten Sektoren. Die klassischen Industrieländer haben den Institutionenaufbau in mühevoller, gelegentlich leidvoller Jahrhunderte langer Erfahrung geleistet. Diese Erfahrung fehlt den Schwellenländern und kann wohl nur sehr partiell durch das Lernen von anderen ersetzt werden. Mängel, teilweise schwerwiegende, in den Institutionen der Schwellenländer sind offensichtlich und werden deshalb unter bestimmten Situationen immer wieder zu Bremsfaktoren im Entwicklungsprozess. Man muss also davon ausgehen, dass sich in den gegenwärtig wirtschaftlich sehr erfolgreichen Schwellenländern früher oder später Brüche vollziehen, die mit Mängeln in den Institutionen zu tun haben.
Gibt es heimliche Gewinner-Staaten, die derzeit kaum ein Analyst im Blick hat?
Natürlich gibt es noch andere Staaten mit überdurchschnittlichem Wachstumspotenzial. Ihre Bedeutung, gemessen am Einfluss auf die globale Wirtschaft, wird aber bei weitem nicht so groß sein wie bei den vier ursprünglichen BRIC-Staaten. Zu diesem Kreis zählt sicherlich auch die Türkei. Insgesamt sind elf weitere BRIC-ähnliche Staaten inzwischen identifiziert worden, nämlich neben der Türkei auch Bangladesh, Ägypten, Indonesien, Iran, Korea, Mexiko, Nigeria, Pakistan, die Philippinen und Vietnam.
Was sind die entscheidenden Kriterien für die Bewertung der Entwicklungsperspektiven einzelner Schwellenländer?
Die BRIC-Staaten werden unter anderem identifiziert durch ihren signifikanten Einfluss auf das Wachstum der Weltwirtschaft und des Welthandels sowie über ihre Devisenreserven und Leistungsbilanzüberschüsse. Auch die Möglichkeit, ausländische Direktinvestitionen zu attrahieren, und die Höhe des Ölverbrauchs sind Unterscheidungskriterien. Mitentscheidend für das zukünftige Wirtschaftswachstum ist eine positive demografische Perspektive, das heißt hinreichend starkes Bevölkerungswachstum.
Ist die Devise „Engagement im Ausland sichert Arbeitsplätze im Inland" tatsächlich zutreffend?
Nur wenige Wahrheiten auf der Welt treffen immer zu. Aber bei dieser Aussage handelt es sich nicht einmal um eine Wahrheit. Neue Arbeitsplätze werden durch das Auslandsengagement in der Regel geschaffen, wenn neue Märkte erobert werden. Aber zumeist steht der Ersatz der teuren deutschen durch billige ausländische Arbeitskräfte im Vordergrund. Das kann allenfalls in dem Sinne positiv für den Arbeitsmarkt in Deutschland sein, dass auf diese Weise verhindert wird, dass alles verloren geht. Das scheint wohl mit dieser Devise gemeint zu sein.
Was halten Sie von dieser Devise?
Mir wäre es wohler, wenn gute innere Standortbedingungen unseres Landes von vornherein verhindern würden, dass so viel Kapital ins Ausland abwandert. Deutschland exportiert leider viel mehr Kapital netto ins Ausland, als es netto zu Hause investiert. Unsere Investitionsquote ist eine der niedrigsten unter allen OECD-Ländern. Die Standortflucht ist und bleibt das große Problem des Wirtschaftsstandorts Deutschland.
Der Trend, Fertigung in Deutschland abzubauen und im Ausland aufzubauen, hält offenbar an. Kann es auch andere sinnvolle Strategien für Unternehmen geben?
Ja, man kann natürlich hierzulande ganz gut mit Robotern statt Menschen produzieren. Das ist für die Unternehmen vielfach die bessere Alternative. Bessere Strategien müssen aber insbesondere von der Politik ermöglicht werden, indem sie mehr Lohnflexibilität schafft und den Arbeitsmarkt dereguliert.