"Neid ist tief in den Köpfen vieler Deutscher verankert"

Interview mit Hans-Werner Sinn, Die Welt, 18.10.2008, Nr. 245, S. 10

Der Chef des Ifo-Instituts, Hans-Werner Sinn, über Managergehälter, Bankenrettung und das Verhältnis der Bundesbürger zur Wirtschaft

Ist Deutschland noch zu retten? So hieß Ihr Buch 2003, und Sie monierten die Schwerfälligkeit von Reformen. Und heute? Verhält sich die Bundesregierung adäquat?

Hans-Werner Sinn: Angela Merkel hat uns mit Herrn Steinbrück aus der Finanzkrise gerettet. Das ist wohl richtig. Ich hoffe, sie wird uns auch vor den Konsequenzen einer wirtschaftlichen Flaute retten. Denn die kommt auf alle Fälle. Man muss die Reformen, die man machte, nicht preisgeben, sondern verstärken, damit wir strukturell besser aufgestellt sind. Die Agenda 2010 war richtig.

Wie links ist Deutschland heute?

Sinn: Sehr. Wir hatten die Managerdebatte, die Gerechtigkeitsdebatte, und jetzt schiebt man den Managern auch noch die Finanzkrise in die Schuhe. Das ist schon hartes Terrain.

Haben Sie das Gefühl, dass die Deutschen besonders schwer mit Ungleichheit umgehen können?

Sinn: Deutschland hat ja den Sozialismus erfunden und ihn in die Welt exportiert. Mit dem Sozialismus hat man versucht, den Neid hoffähig zu machen. Der Neid ist tief in den Köpfen vieler Deutscher verankert. Mit der DDR hatten wir in einem Teil unseres Landes sogar ein Regime etabliert, in dem der Neid Staatsdoktrin war. Viele verklären das System im Nachhinein und wünschen es sich insgeheim zurück, freilich auf dem Wohlstandsniveau, das der Kapitalismus ermöglicht. Oskar Lafontaine predigt heute erneut den Neid als politisches Programm, und er findet sehr viele Anhänger in den neuen Ländern. Dass er seinerzeit gesagt hat, die Lothringer stünden ihm näher als die Ostdeutschen, haben viele vergessen.

Ist die Wirtschaft ein einziger Hort des Übels?

Sinn: Der Eindruck verfestigt sich, obwohl die, die uns da reinritten, in erster Linie die amerikanischen Häuslebauer und nur in zweiter Linie die Investmentbanker waren.

Wie erklärt man das dem "kleinen Mann auf der Straße?"

Sinn: Das ist sehr schwer. In den Schulen wird das Fach Wirtschaft meistens nicht unterrichtet, und wenn, dann häufig nur der Keyenesianismus. Umso wichtiger, dass wir politische Führungspersönlichkeiten haben, die dem Volk Wissen über wirtschaftliche Prozesse vermitteln. Leider hapert es auch da.

Ist nur die "Zähmung" in Form von Marktwirtschaft gut und Kapitalismus Anarchie oder Raubtierattitüde?

Sinn: Nein, weiß Gott nicht. Marktwirtschaft ist keine Anarchie. Sie ist vielmehr ein System, das strikte Spielregeln braucht, die von einem Schiedsrichter kontrolliert werden. Der Schiedsrichter passt nur auf, dass die Regeln eingehalten werden, spielt aber nicht selbst mit und ordnet auch keine Spielzüge an.

Kommt man weiter, indem man die Akteure moralisch verdammt?

Sinn: Als Ökonom bemühe ich mich, die Moral wegzulassen. Bei moralisch-ethischen Kategorien weichen die Meinungen der Menschen zu stark voneinander ab, als dass man sich in diese Diskussion einmischen sollte. Ökonomen nehmen stets nur ganz schwache Werturteile an, denen wohl 95 Prozent der Menschen zustimmen würden, und leiten hieraus ihre Empfehlungen ab. Die mögen die Menschen dann häufig nicht, weil sie die Wirkungsketten nicht kennen und eine andere Moral vermuten, was nicht der Fall ist. Man ist als Wissenschaftler verloren, wenn man sich auf dieses Terrain begibt. Die Finanzkrise ist klar durch Anreizstrukturen und falsche Regeln entstanden. Da liegt das Problem, nicht bei der Moral.

Sind Sie auch für eine Haftung von Managern?

Sinn: Warum darüber ständig geredet wird, ist mir ein Rätsel. Wir haben diese Haftung in Deutschland bereits in extremem Umfang. Bei einer großen deutschen Bank wurde der Unternehmensleiter kürzlich von einem Hedgefonds der Bahamas über 15 Milliarden Euro privat verklagt, weil er sich angeblich beim Verkauf eines Unternehmensteils mit einem zu kleinen Verkaufspreis begnügt hat. Bei aller Liebe: Das deutsche Haftungsrecht ist bei den Managern und Aufsichtsräten überscharf.

Wenn Sie dies so vehement ablehnen, wer ist dann verantwortlich?

Sinn: Diese Krise ist durch Aktionäre verursacht, die Manager wollten, die sich für sie am Glücksspiel beteiligten. Viele Jahre flossen enorme Gewinne, die ausgeschüttet wurden. Das Problem ist, dass der Gesetzgeber zugelassen hat, dass die Gelder aus den Unternehmen herausgeholt wurden, indem er zu geringe Eigenkapitalanforderungen für das Geschäft gesetzt hat.

Was werden die Banken tun, ist ihre Glaubwürdigkeit dahin?

Sinn: Im gesellschaftlichen Sinne ja, im Sinne der Bonität nicht. Denn die riesigen Summen haben wieder einiges geradegerückt. 2200 Milliarden Euro haben die westlichen Länder insgesamt an Staatsgarantien zur Verfügung gestellt. Das stabilisiert das Bankensystem, auch der Interbanken-Verkehr wird sich normalisieren. Doch die Krise ist nicht vorbei, sie hat andere Ursachen.

Welche?

Sinn: Es gibt immer ein Auf und Ab der Konjunktur. Deutschland hat drei gute Jahre gehabt. Das ist jetzt zu Ende. Alles wurde durch die Hauspreise in Amerika verursacht, die Blase platzte. Die Verbraucher Amerikas werden zurückhaltender werden, und das beeinträchtigt die Weltkonjunktur.

Wie lädiert ist Amerika?

Sinn: Die Dominanz Amerikas über den Finanzsektor ist vorbei. Zehn Jahre spielten die Amerikaner ein tolles Spiel. Sie hörten auf zu sparen, die Leute hofften, ihre Häuser würden wertvoller, machten sich ein schönes Leben, Wachstum geschah durch Kapitalimporte aus dem Ausland, die Amerikaner verkauften der Welt Schrottpapiere. Dieser Trick ist zu Ende. Die Amerikaner müssen nun ihr Leistungsbilanzdefizit verringern, da der Dollar aber so weit unten ist, kann das nur noch durch eine Wirtschaftsflaute geschehen. Das wird ein mühsamer Prozess für die Amerikaner, weil sie lernen müssen, dass man Vermögen nur noch über Sparen und Entsagung aufbauen kann.

Nach zehn aufregenden Jahren kommen nun magere?

Sinn: Jetzt werden zehn triste Jahre kommen, und der Präsident, der wohl Obama heißen wird, ist nicht zu beneiden. Er muss die Stagnation verwalten.

Ist die Globalisierung, die allemal nicht sehr gemocht wird, in den saturierten Wohlfahrtsstaaten Europas durch die Entgleisung der Finanzwelt nicht endgültig verhasst?

Sinn: In der Tat. Mit dem Begriff der Globalisierung verbindet sich Angst. Sie ist ja auch eine Herausforderung, die alles durcheinander wirbelt. Das mag man nicht, das stört die Ruhe. Man muss sich anstrengen, nicht unter die Räder zu kommen. Das gilt für den Staat, für die Wirtschaft und für jeden Einzelnen. Das spüren viele am Arbeitsplatz: Nichts ist mehr, wie es war. In der Herausforderung liegt aber auch eine Chance.

Haben sich die Europäer in der anhaltenden Finanzkrise bisher gut verhalten?

Sinn: Das Krisenmanagement war ausgezeichnet. Das britische Modell insbesondere überzeugt. Gordon Brown hat unglaublich an Statur gewonnen. Er ist gelernter Ökonom, das spürt man. Sein Plan hat es in sich und ist die Lösung der akuten Krise in Europa. Alle Achtung. Daher kann ein Zusammenbruch der Banken wie 1931 heute nicht mehr stattfinden.

Auch keine Gefahren für den kleinen Mann?

Sinn: Damals hatten wir 30 Prozent Arbeitslose, davon kann nun wirklich nicht die Rede sein. Aber der normale Konjunkturabschwung wird recht stark ausfallen, weil in Amerika die realwirtschaftlichen Verwerfungen heftig sind. Das wird auch den kleinen Mann treffen.

Ist die Mittelschicht der große Verlierer des Ganzen?

Sinn: Was genau ist die Mittelschicht? Die Löhne für Facharbeiter stiegen nicht mehr stark. Die Leute haben noch ihre Arbeit, aber der Aufschwung war nicht auf ihrem Konto zu vermerken. Anders ist das Urteil, wenn man sich auf die formelle Definition der Mittelschicht bezieht, die von 70 bis 150 Prozent des mittleren Einkommens reicht. Diese Schicht wurde seit der Agenda gestärkt, weil die Arbeitslosigkeit so stark zurückging. Die Zahlen des DIW und des sozioökonomischen Panels haben dies gezeigt. Im unteren Teil der Mittelschicht kam es zu enormen Zuwächsen durch Leute, die vorher arbeitslos waren.

Liegt unser Bundespräsident richtig, ein Mann der Wirtschaft, wenn er eine Entschuldigung der Banker verlangt?

Sinn: Er hat das Recht, das zu verlangen. Ich habe es nicht. Richtig ist seine Kritik an dem Finanzsystem, das wir weltweit hatten. Die angelsächsischen Banken, allen voran die Investmentbanken, wurden nicht genug vom Staat kontrolliert. Der angelsächsische Spieltrieb war nicht gesund und begann auch schon, sich nach Deutschland auszubreiten. Die 25 Prozent Rendite, die Herr Ackermann von seinen Investmentbankern verlangte, sehe ich als Zeichen eines Infektes. Solche Renditen sind nicht normal und haben keine realwirtschaftliche Basis. Wer sie anstrebt, spielt mit einem Risiko, das hohe potenzielle Lasten für die Gesellschaft impliziert. Diese Ansprüche müssen wieder auf das Normalmaß reduziert werden. Das angelsächsische Bankertum wird durch ein traditionelles, vorsichtigeres kontinentaleuropäisches ersetzt werden.

Spüren Sie in irgendeiner Form ein schlechtes Gewissen bei den Bankmanagern?

Sinn: Die Zerknirschtheit habe ich nicht gesehen. Außer über die fallenden Aktienkurse.

Ist das Rücksichtslosigkeit?

Sinn: Ich verurteile keine Menschen, sondern nur die Systeme. Ich mache keine Manager verantwortlich, denn diese haben sich innerhalb des Systems nach bestehenden Gesetzen und Regeln verhalten und im Interesse ihrer Aktionäre an zu große Risiken herangewagt. Der Staat hat das Institut der Haftungsbeschränkung im 19. Jahrhundert erfunden. Das war die Basis dafür, dass überhaupt Kapitalgesellschaften gegründet werden konnten, und diese waren die Basis der stürmischen kapitalistischen Entwicklung, die seither stattfand und die uns den heutigen Wohlstand gebracht hat. Aber wenn der Staat die Haftungsbeschränkung bestimmten Unternehmensformen gewährt, muss er sie auch definieren, indem er Mindestanforderungen für die Eigenkapitalmenge festlegt. Er kann es nicht den Unternehmen selbst überlassen festzulegen, wie viel Haftung sie übernehmen wollen. Tut er es, so darf er sich nicht wundern, dass die Unternehmen mit so wenig Eigenkapital arbeiten, dass sie fast gar keine Haftung mehr übernehmen und dann mit dem Spielen beginnen.

Spricht im Krisenmanagement die Politik die richtige Sprache?

Sinn: Der Ton war richtig. Das Weltfinanzsystem stand kurz vor der Kernschmelze, und das hätte dramatische Konsequenzen für den Lebensstandard eines jeden gehabt. Leider hat die Bundesregierung einen Fehler in das deutsche Programm eingebaut.

Was meinen Sie damit?

Sinn: Die Managergehälter sollen bei den Banken, die die Hilfen in Anspruch nehmen, auf 500 000 Euro begrenzt werden. Dafür lässt sich unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten viel sagen. Indes wird diese Regel die Wirksamkeit des Programms erheblich einschränken. Zwar werden die Unternehmen die Hilfen in Anspruch nehmen, wenn sie sonst den Konkurs nicht abwenden können. Insofern werden Bankenpleiten wirksam verhindert. Jedoch werden die Banken, die zwar nicht gefährdet sind, aber doch einen großen Teil ihres Eigenkapitals verloren haben, das vom Staat angebotene Eigenkapital nicht in Anspruch nehmen. Die Manager werden stattdessen das Kreditvolumen an das verringerte Eigenkapital anpassen. Die drohende Kreditklemme wird damit nicht vermieden. Die dringend notwendige Rekapitalisierung des Bankensystems wird nicht stattfinden. Deutschland ist das einzige Land, das eine strikte Begrenzung der Managergehälter angekündigt hat.

Wo werden wir unter diesen Verhältnissen im nächsten Jahr sein?

Sinn: In der Flaute. Mit mehr Arbeitslosigkeit, wenig Wirtschaftswachstum. So haben wir das alle paar Jahre allemal. Der Zyklus geht nach unten, diesmal sogar besonders kräftig.

Wer ist Gewinner der Krise?

Sinn: Die Gewinner sind die US-Hausbesitzer, die zehn Jahre über ihre Verhältnisse gelebt haben. Das Geld ist allerdings jetzt weg. Geostrategisch wird China profitieren. Die Chinesen werden das Papier, auf dem die Ansprüche gegen die Amerikaner definiert sind, verwenden, um sich in der amerikanischen Wirtschaft einzukaufen. Außerdem hat sich für China der Weg bis zur Überholung Amerikas verkürzt. Das wird alles sehr unangenehm für die Amerikaner.

Das Gespräch führte Andrea Seibel